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Strafunmündige machen Justiz ratlos

Was tun mit strafunmündigen Straftätern? Ein dreizehnjähriger Bosnier, der bereits fünfzig Raubtaten verübte, und die steigende Kriminalität von Kindern könnten den vor Jahren abgeschafften geschlossenen Heimen zur Renaissance verhelfen  ■ Von Plutonia Plarre

Jahrelang war das Thema in den Fachkreisen für Jugendarbeit vollkommmen tabu. Aber plötzlich wird er wieder laut, der Ruf nach geschlossenen Heimen für strafunmündige Kinder. Noch melden sich die Befürworter sehr vorsichtig zu Wort. Aber die Diskussion um die 1990 abgeschaffte höchst umstrittene Einrichtung ist eröffnet. So weit, daß Mitarbeiter der Jugendverwaltung jetzt in einer referatübergreifenden Arbeitsgruppe die pädagogischen Hilfen und Unterbringungsmöglichkeiten für delinquente Kinder prüfen wollen.

Die Debatte über geschlossene Heime hat sich an einem 13jährigen Serientäter aus Bosnien entzündet. Seit die Polizei den Fall vor zwei Wochen publik gemacht hat, stürzen sich alle Medien begierig auf das Thema. Eine im Steigen begriffene Kriminalitätsrate von Kindern tut ein übriges, um die Diskussion anzuheizen.

1995 wurden rund 9.800 Tatverdächtige unter vierzehn Jahren registriert. Im Vorjahr waren es 700 weniger. Allerdings gab es 1994 noch keine Sonderermittlungsgruppe Graffiti bei der Polizei, die die Kriminalstatistik von 1995 mit der Festnahme zahlreicher Sprayer kräftig nach oben trieb. 1.607 Kinder wurden als Tatverdächtige von Roheitsdelikten ermittelt. In 476 Fällen gingen die Taten mit einem Raub oder einer räuberischen Erpressung einher.

Geschlossene Heime gibt es in Berlin seit 1990 nicht mehr. In der Folge der großen Heimkampagne in den 60er und 70er Jahren hatten unter der SPD-Jugendsenatorin Ilse Reichel eine Liberalisierung der Sozialpädagogik und die Öffnung der Jugendarbeit eingesetzt.

Bei Polizei, Justiz und im Jugendhilfebereich gab es zwar immer ein paar Hardliner, die geschlossene Einrichtungen für kriminelle Kinder forderten: als eine Art Ersatzsanktionsmittel, denn unter Vierzehnjährige sind strafunmündig und können deshalb für ihre Taten nicht belangt werden. Aber solche Stimmen haben bislang kaum politischen Rückhalt gefunden.

Der Leiterin der Zentralstelle für Jugendsachen bei der Polizei, Christine Burck, kann gewiß nicht nachgesagt werden, eine Hardlinerin zu sein. Trotzdem tritt Burck ganz offen für die Einrichtung eines geschlossenen Heimes in Berlin ein. „Bei einigen wenigen jungen Straftätern wissen wir einfach nicht, was wir mit ihnen machen können.“ Die Eltern würden mit ihnen meistens schon lange nicht mehr fertig. 15 bis 20 Plätze in einer geschlossenen Einrichtung seien vollkommen ausreichend, glaubt Burck. Es gebe Fälle, wo die Allgemeinheit vor solchen Kindern geschützt werden müsse. Eine pädagogische Ganztagsbetreuung für die jungen Delinquenten sei aber unabdingbar. „Wir wollen keinen Kinderknast bauen.“

Das 1990 bundesweit in Kraft getretene Kinder und Jugendhilfegesetz (KJHG) erlaubt eine freiheitsentziehende Maßnahme nur dann, wenn das Kind an Leib und Leben bedroht ist oder andere Menschen in dieser Form bedroht. Sie kann nur von einem Vormundschaftsgericht angeordnet werden. Berlin, Hamburg und Hessen schafften ihre geschlossenen Heime vor sechs Jahren ab. Ihrer großen Problemkinder entledigten sich diese Länder seither, indem sie diese in ein Bundesland mit einem geschlossenen Heim abschoben. Bundesweit gibt es acht solcher Einrichtungen.

Der 13jährige Bosnier, der die Diskussion über geschlossene Heime jetzt neu entfachte, hat laut Polizei über 50 Raubtaten, zum Teil mit schwerer Körperverletzung, begangen. In Ermangelung eines geschlossenen Heimes wurde er in der Kinderpsychiatrie Wiesengrund in Spandau untergebracht. Nachdem er dort Anfang August entlassen worden war, überfiel er binnen weniger Stunden einen 16jährigen und kurz darauf einen 14jährigen Jugendlichen und raubte diesen ihr Geld. Dem einen drehte er den Arm um, den anderen bedrohte er mit einem Messer. Wenige Tage später überfiel er mit zwei Komplizen einen erwachsenen Passanten. Erst brach er dem Mann mit einem Faustschlag das Nasenbein, dann raubte er ihm die Brieftasche.

Der Junge soll schon in der Psychiatrie durchblicken haben lassen, daß er so weitermachen werde wie bisher. Was tun mit diesem strafunmündigen Kind? fragte sich das Weddinger Jugendamt verzweifelt. „Es war klar, daß sich der Junge nicht durch ambulante pädagogische Maßnahmen von seinem Handeln abbringen lassen würde und uns sofort aus jedem offenen Heim fortgelaufen wäre“, erzählt Sven Nachmann, der das Kind als Leiter des Weddinger Jugendreferats betreute. Um zu verhindern, daß der Junge weitere Gewalttaten begeht, wurde er erneut in die Kinderpsychiatrie Wiesengrund eingewiesen. Klinikleiter Anton Spilimbergo protestierte heftig. „Spilimbergo wird von den Behörden mit sozialen Problemfällen überhäuft und fühlt sich deshalb verständlicherweise mißbraucht“, so Nachmann. „Aber wir hatten keine andere Wahl, weil wir keine andere Möglichkeit haben.“ Inzwischen ist es dem Jugendamt gelungen, den Bosnier beim Verein „Erlebnispädagogik“ in Schleswig-Holstein unterzubringen. Der Verein verfügt über offene und geschlossene Wohngruppen.

Was das Ausmaß seiner Taten angeht, ist der 13jährige Bosnier ein absoluter Einzelfall. Aber der Fall beleuchtet ein Problem, mit dem Polizei und Jugendämter in letzter Zeit öfter zu tun haben: das nach Berlin geflüchteter delinquenter Kriegskinder aus dem ehemaligen Jugoslawien. Der 13jährige analphabetische Rom sei in den Kriegswirren in Bosnien marodierend umhergezogen, habe gestohlen und geraubt, „um seinen Bauch vollzubekommen“, weiß Nachmann. Allein im Wedding kenne er acht Kinder aus Kriegsgebieten mit ähnlichen Störungen, wie der kleine Bosnier sie hat. „Die Kinder haben keine moralisch- ethischen Grenzen und sind sozial vollkommen verwahrlost.“

Einen vernünftigen Hilfeplan könne man für manche nur aufstellen, wenn man sie „für einen Zeitraum von zwei Wochen bis zwei Monaten in einer geschlossenen Einrichtung unterbringt“, ist Nachmann überzeugt. „In einer offenen Einrichtung kommt man überhaupt nicht an sie heran, weil sie sofort wieder abhauen.“

Nachmann ist sich der Tragweite seiner Forderung bewußt. Schließlich sei er selbst fünfzehn Jahre lang der Überzeugung gewesen, „geschlossene Heime brauchen wir nicht“. Seine Forderung will er nur in wenigen Einzelfällen auf delinquente Kinder und auf Kriegskinder aus Exjugoslawien bezogen wissen. Allerdings gebe es mit libanesischen Asylbewerberkindern ähnliche Probleme. „Eine geschlossene Einrichtung mit vier Betten würde den Bedarf vermutlich schon decken“, meint Nachmann.

Peter Widemann, Referent für Erziehungshilfen in der Senatsjugendverwaltung, warnt: „Angebot schafft Nachfrage.“ Geschlossene Einrichtungen für Kinder dürften nur die Ultima ratio sein, wenn alle anderen pädagogischen Mittel gescheitert seien, inbesondere das betreute Jugendwohnen. „In diesen Bereichen ist bei weitem noch nicht alles ausgeschöpft“, glaubt Widemann. Er räumt aber ein, daß sich die Jugendhilfe angesichts der kriminellen Karrieren mancher Flüchtlingskinder dringend „etwas Spezielles“ einfallen lassen müsse.

„Das ist ein ganz neues Phänomen.“ Eines steht für Widemann jedoch fest: Wenn wieder eine geschlossene Einrichtung geschaffen werden sollte, müsse diese das Gegenteil von einem Kinderknast sein. „Sehr freundlich und hell ausgestattet und mit dem besten pädagogischen Personal. Sonst wird man bei den eingesperrten Kindern überhaupt nichts bewegen.“ So etwas koste natürlich viel Geld.

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