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Ohne Fisimatenten über die Müggelspree

Boot statt Bus und Bahn – öffentlicher Nahverkehr bei Berlin einmal ganz anders. Mit der „Paule III“ über den Fluß bei Rahnsdorf gesetzt und dabei Fährmeister Paul Rahn auf die Ruder geguckt  ■ Von Peter Klein

„Möchte er rüber?“ Es kann passieren, daß sie in der dritten Person angesprochen werden, die Passagiere, die in Rahnsdorf bei Berlin mit der Fähre über die Spree setzen wollen. Die Frage klingt so prüfend, daß es sich mancher gut überlegen, ob das wirklich sein muß. Der Mann mit der rauhen Stimme scheint keine Fisimatenten zu mögen. Doch auf ein vernehmliches Ja hin, steigt er in aller Ruhe in das orangerote Boot und rudert stehend, eine Zigarette im Mundwinkel, zum Fahrgast herüber.

„Paule III“ heißt der Kahn. Er hat seinen Namen nach dem skeptisch blickenden Fährmeister Paul Rahn, der an dieser Stelle seit 17 Jahren seinen Dienst tut. Seine Auftraggeber sind die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), und seine Zugehörigkeit zum öffentlichen Personennahverkehr einer Millionenstadt erscheint heute so zeitgemäß wie ein Rechenschieber in einer Großbank.

Paul Rahn ist mehr Seemann als Dienstleister. Er legt Wert darauf, nicht mit den Bus-, Tram- und U-Bahn-Fahrern in einen Topf geworfen zu werden. Angestellt ist er nämlich bei einer privaten Reederei, die für den Fährlinienverkehr der BVG das Personal und die Schiffe stellt. Es ist eine verworrene Geschichte, die mit der Vereinigung der Verkehrsbetriebe Ost und West zu tun hat. Doch davon später.

Rahn ist hier eindeutig der Chef. „Na, denn lassen Se mal Ihre Umweltkarte sehn“, verlangt er. Wer einen gültigen Fahrausweis hat, zahlt nicht zusätzlich, ohne Fahrausweis kostet die Überfahrt 2,50 Mark. Das Vergnügen ist kurz und sanft. Man schaut zwei-, dreimal in das stoische Gesicht des Bootsführers, und schon sind die zehn, fünfzehn Meter über die Müggelspree geschafft. Das ist Paul Rahns Zuhause, da wartet er auf Kundschaft, dort laufen seine Enkelkinder herum, und dorthin kommen die Leute aus dem umliegenden Häuschen, die ein Bier trinken und quatschen wollen.

Kneipen gibt es auf den abgelegenen Spreewiesen nicht. Aber der kleine Kiosk an der Anlegestelle bietet Hamburger, Eis, Bier, Schnaps und Zigaretten. Eben alles, was eine gute Entschuldigung ist, um kurz mal von daheim zu verschwinden. Der Laden gehört einer Bekannten des Fährmanns. Während der Woche, wenn die Ausflügler rar sind, schmeißt er selbst das Geschäft.

1934 wurde Paul Rahn in Berlin-Friedrichshain geboren. Zwei Jahre später zogen seine Eltern nach Rahnsdorf. „In die schönste Ecke Berlins“, sagt er. Sie überquerten die Spree an derselben Stelle, an der er jetzt wieder steht, nur damals habe er „jeschrien wie verrückt“.

Die Angst legte sich schnell. Der Fluß wurde zum Abenteuerspielplatz. Er tauchte mit seinen Freunden unter vorbeifahrenden Schleppkähnen, ließ sich im Winter auf Eisschollen flußabwärts in Richtung Müggelsee treiben. Und wenn seine Mutter mit der Wäsche fertig war, schnappte er sich den Holztrog und einen Spaten und paddelte durch den Fluß.

Doch auch in Rahnsdorf war Krieg. In der Bootswerft Schneider mußten polnische und russische Zwangsarbeiter Schnellboote für die Kriegsmaschinerie der Nazis bauen. Als dann im nahen Erkner die Teerfabrik zerbombt wurde, blieb auch Rahnsdorf nicht verschont.

Der Krieg war zu Ende, als russische Soldaten Paul, seine Familie und die Nachbarschaft aus einem 18 Meter tiefen Stollen im Wald holten und seiner Mutter die Lederjacke wegnahmen: „Wegen der Jacke hatse sich nich jeärgert, aber wegen der Zigaretten, die drin waren.“

Paul Rahn liebt es, Geschichten zu erzählen, und er pflegt seine Schnoddrigkeit. Die Wirkung darauf kennt er. „Zu DDR-Zeiten war ich öfter in der Zeitung als der Honecker“, behauptet er. Wenn er solche Sprüche macht, lassen sich bei ihm Ironie und Selbstinszenierung nicht mehr unterscheiden.

Die Russen bauten eine Behelfsbrücke und machten die sumpfigen Auen durch gefällte Baumstämme befahrbar. Seit dieser Zeit gibt es eine Straßenverbindung ins südlich gelegene Müggelheim. Vorher mußten das Bier und die Kohlen mit dem Boot gebracht werden.

Trotz der Brücke ging der Fährverkehr weiter. Die Soldaten ließen sich von Pauls Mutter übersetzen, bis der Sohn irgendwann genug hatte, ein Loch in den Kahn bohrte und zu seiner Mutter sagte: „So, jetzt brauchste die nich mehr rüberfahren.“

Die Schule hatte es dem jungen Paul nicht besonders angetan. Er wollte und mußte Geld verdienen. „Ick hab' allet mögliche jemacht: Mit elf bin ick um vier Uhr uffjestanden und hab' im Kuhstall jearbeitet. Ick hab' Brot verkauft und Kohlen jeschleppt. Freitags mußte ick bei meiner Mutter Kostgeld abjeben, aber am Montag hatte ick es schon wieder rin. Ick war ja pfiffig.“

In den fünfziger Jahren zog es ihn weiter hinaus aufs Wasser. Er arbeitete einige Jahre in der Hochseefischerei, aber alle paar Wochen mußte er zurück nach Rahnsdorf. „Hier ist mein Zuhause, meine Spree, und hier ist die Welt in Ordnung.“

Wenn man sich umsieht, könnte man es fast glauben. Ein ruhig ziehender Fluß, hohe Bäume, ein Kirchturm in Sichtweite, kein Autolärm, die meisten Motorbootfahrer winken, und Paul Rahn winkt zurück.

Wen wundert's, daß zu DDR- Zeiten verdienten Parteigenossen in dieser Gegend ein Grundstück verschafft wurde. Rahnsdorf und Müggelheim wuchsen um etliche Einfamilienhäuser. „Die Bonzen waren unter sich“, beschreibt der Fährmann das Verhältnis zu diesen Nachbarn, „und wir waren unter uns.“

1961 geriet Rahn in Konflikt mit dem System. Er hatte einen Kohlenladen in Moabit, war also Grenzgänger. In der Zeit des Mauerbaus ging er eines Tages an der Panke spazieren, als gerade eine Gruppe Studenten entdeckt wurde, die in den Westen abhauen wollte. Er wurde mitgeschnappt und konnte nicht beweisen, daß er sich gar nicht absetzen wollte. Er bekam acht Monate, für die man ihn nach Halle zum Tagebau schickte. „Ick hab' nie mein Maul jehalten, aber die konnten mir nie was anhängen.“

In den Achtzigern hätten sie ihn beinahe noch einmal eingebuchtet. Direkt gegenüber seiner Anlegestelle okkupierte die Stasi ein Gebäude und errichtete einen hohen Zaun um das Anwesen. Woraufhin er ganz unschuldig fragte: „Wollt Ihr hier Känguruhs züchten?“

1965 machte er den Fährmeisterschein, und drei Jahre lang setzte er ein Stück flußaufwärts Leute über. Damals gab es in der weitverzweigten Flußlandschaft im Südosten Berlins so viele Fähren, wie es heute Baukräne auf dem Potsdamer Platz gibt.

1968 ging er als Staplerfahrer in die Brauerei nach Friedrichshagen und belud in Schichtarbeit Laster. Dem Job trauert er zwar nicht nach, aber eines wurmt ihn trotzdem: Seit der Wende gilt der Führerschein für Stapler nicht mehr. „Die denken wohl, wir waren blöd und unsere Laster sind dauernd umjekippt.“

Trockener Humor, gesundes Selbstvertrauen, ein Schuß Draufgängertum gepaart mit Schrulligkeit – das ist Paul Rahn. Er wirkt, wie jeder Vierzehnjährige heute sein möchte: cool. Der Mann mit dem herben Charme war zweimal verheiratet, insgesamt hat er sieben Kinder: „Drei von der ersten Frau, eines kam nebenher, und drei hab' ick von der zweiten Frau.“ Die erste Ehe wurde geschieden, seine zweite Frau starb 1973, als die von ihr geborenen Zwillinge gerade zwei Jahre alt waren und der Kleine erst eins. Er hat die Kinder allein großgezogen. „Hätt' ick se ins Heim jegeben, hätt ick mich totjesoffen.“

Nach der Morgenschicht kochte er die Wäsche und spülte sie im Fluß aus. Das dichte Netz der Kinderbetreuung in der DDR half ihm. Die Woche über waren die Kleinen in einer Krippe in Schöneweide, und am Wochenende kamen sie zu ihm.

Als seine ältesten Kinder zur Schule gingen, mußte sich etwas ändern. Paul Rahn bekam die Gelegenheit, die Handfähre direkt vor seiner Haustür zu übernehmen. Dadurch konnte er die Kinder besser im Auge behalten. 1979 begann er den Dienst. Geheiratet hat er nicht mehr: „Wegen 'nem Liter Milch koof ick mir doch keene Kuh.“

Die Gegend um den Müggelsee war das wichtigste Naherholungsgebiet Ost-Berlins. Rund 30.000 Passagiere beförderte Paul Rahn in dieser Zeit jährlich. Der Bootsverkehr war so stark, daß es manchmal schwierig wurde, eine Lücke für die Fähre zu finden. „Die Luft war blau von Abgasen. Ick hab' soviel davon abbekommen wie ein Schutzmann auf der Kreuzung.“

Inzwischen ist es ruhiger geworden. Er rudert nur noch halb so viele Leute ans andere Ufer. Für die BVG ist der Fährbetrieb ein Zuschußgeschäft. Die Kosten für die insgesamt sechs Linien betragen jährlich rund zwei Millionen Mark, die Einnahmen liegen bei 400.000 Mark.

Vor der Wende gehörte nur eine Linie am Wannsee zum Netz der Verkehrsbetriebe im Westteil der Stadt. Im Osten war die „weiße Flotte“ als Teil der damaligen BVB für den Schiffs- und Ausflugsverkehr verantwortlich. Bei der Vereinigung von BVG und BVB wurde sie ausgegliedert und mit einer privaten Reederei zusammengeschlossen. Nur die Fährlinien blieben als „öffentliche Angelegenheit“ bei den Verkehrsbetrieben. Dadurch entstand die Kuriosität, daß die Stege im Besitz der BVG sind, Schiffe und Personal aber der privaten Stern-und-Kreis- Schiffahrt gehören. Die BVG hat Paul Rahn sozusagen geleast.

Es ist eben nicht mehr so wie früher. Für Paul Rahn ist nicht einmal die Rente sicher: „Die sagen, ick hab' noch keene 25 Jahre, dabei arbeite ick schon seit fuffzig Jahren.“ Eigentlich wollte er nach diesem Sommer aufhören, aber nun wird er wohl weitermachen. Er wendet es positiv: „Rumglucken kann man immer noch.“

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