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Die große Tautologie

Daniel Goldhagen ignoriert eine entscheidende historische Voraussetzung des Holocaust: den Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht  ■ Von Hannes Heer

Selten hat sich ein Wissenschaftler mit einem Beitrag zu einem komplizierten Thema in so kurzer Zeit so viele Gegner auf den Hals geholt. Die alten und neuen Nazis schäumen, weil die Wirklichkeit des Holocaust unabweisbar und in alptraumartiger Verdichtung noch einmal zurückgeholt wird. Die publizistischen Betreiber des Juste milieu, die Schirrmachers, Augsteins usw. empören sich über die Feststellung, daß im Deutschland des 19. Jahrhunderts schon ein auffallend bösartiger und singulärer Antisemitismus existierte, der im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Mehrheitsmeinung der Deutschen wurde und dessen Vernichtungsphantasien den Judäozid erst ermöglicht haben. Die alten Herren der historischen Zunft schließlich ereifern sich, weil mit ihnen und ihrem Lebenswerk ziemlich unsanft umgegangen wird: Sie müssen sich anhören, daß in 50 Jahren Forschung weder eine genaue Schätzung über die Zahl der am Holocaust Beteiligten noch detaillierte Untersuchungen zu den Gruppen der Täter und deren Motiven vorgelegt worden sind.

In allen drei Fällen muß man konstatieren: Goldhagen hat ins Schwarze getroffen. Was den Aufschrei der Gegner eint, ist Wut: Sisyphos muß seinen Stein wieder aufnehmen, die Arbeit am Holocaust geht weiter. Diese Arbeit wird ohne Goldhagen stattfinden. Seine zentralen Thesen verstellen eher das Verständnis des Holocaust, als daß sie zu seiner Erklärung beitragen. Sie lassen sich so zusammenfassen: Der „bösartige“ und „dämonisierende“ Antisemitismus der Deutschen war „die einzige Quelle“ für den Judenmord und die besondere Grausamkeit, mit der er vollzogen wurde.

Die Kalamität beginnt schon mit der Beschreibung des „eliminatorischen Antisemitismus“ des 19. Jahrhunderts. Goldhagen vermag ihn nur quantitativ zu fassen, als Summe einer traditionellen, christlich geprägten und einer modernen rassistischen Judenfeindschaft. Das Amalgam entsprang in seiner Darstellung eher den manipulativen Bedürfnissen von Partei- und Verbandsstrategen nach einem „modernen“ und „aufpolierten“ antisemitischen Modell denn gesellschaftlichen Prozessen und politischen Tiefenströmungen. Die zu erfassen, hätte aber allein erklären können, warum der neue deutsche Antisemitismus gegenüber der jüdischen Existenz soviel „blinder“ war als der der europäischen Nachbarn (Zmarzlik), warum hier das „liberale Korrektiv“ fehlte, das dort existierte (Winkler). Der Judenhaß war eine Reaktion auf die tiefe Krise, in die der rasante Umbruch des sozialen Gefüges und der ökonomischen Verhältnisse seit den siebziger Jahren große Teile der Bevölkerung gestürzt hatte. In Verbindung mit dem triumphalistischen Nationalismus des neugeschaffenen Kaiserreichs und unter Rückgriff auf das Arsenal der politischen Romantik wurde der Jude zur Symbolfigur der verhaßten, auf das Jahr 1789 datierten Moderne und zum Kontrastbild alles deutschen Wesens: wurzellos und geschäftstüchtig, oberflächlich und spitzfindig. Das Bestürzende war, daß das so gezeichnete Judentum sich in einem Frontensystem wiederfand, das mit der geballten Energie einer traumatisch erfahrenen Nationalgeschichte aufgeladen war: deutsche Kultur statt westeuropäischer Zivilisation, Gemeinschaft statt Gesellschaft, Volk statt Nation. Diese Ladung und die Tatsache, daß die akademischen Eliten die Zündschnur in Händen hielten, verhießen nichts Gutes. In Goldhagens Comicbild sucht man vergebens nach diesem Explosivstoff. Er entlud sich erstmals in der politischen und militärischen Krise von 1916, als das preußische Kriegsministerium dem öffentlichen Druck nachgab und im Heer eine „Judenzählung“ veranlaßte, eine Aktion gegen jüdische „Drückeberger“ und „Kriegsgewinnnler“. Goldhagen teilt das eher beiläufig mit als Beleg eines extremen Judenhasses. Daß hier, wie in Rohform, Hitlers politisches Konzept aufscheint, das er nach der Niederlage von 1918 radikaler und totaler ausmodellieren wird, entgeht ihm.

Der Traum von Einheit

Norbert Elias hat in seinen „Studien über die Deutschen“ (1989) auf eine „Grundstörung“ im deutschen Nationalcharakter aufmerksam gemacht: auf die Phantasie eines durch inneren Zwist geschwächten und in die Hände der Feinde gefallenen Imperiums. Dem Trauma entsprechend sieht er eine idealisierende Sehnsucht nach „Einheit“ des Volkes und Rückkehr des „Reiches“ am Werk. Realpolitisch sei dieser Traum mit dem verlorenen Weltkrieg ausgeträumt gewesen. „Was immer sonst noch für die Barbarei der Hitlerzeit verantwortlich war“, schreibt Elias, „einer ihrer Gründe war sicherlich die Weigerung, diese Entwicklung zu sehen und zu akzeptieren.“

Hitlers Programm wie seine praktische Politik, der Holocaust und seine grausige Exekution lassen sich zutreffend nur in diesen Parametern deuten: Das Ziel, die Wiederherstellung des Reiches, war nur zu erreichen durch Krieg; er mußte geführt werden als Kampf auf Leben und Tod; nur so ließen sich die unerläßlichen Bedingungen für den Endsieg realisieren – der Mord an den Juden und die radikale Blutauslese der Volksgemeinschaft; um alle Kräfte zu mobiliseren, inszenierte Hitler den Krieg als Verteidigungskrieg; um ein Surplus von Rohheit und Gewalt zu gewinnen, befreite er seine Kriegsführung von allen Völkerrechtskonventionen und verkehrte das Verbot zu töten in ein Tötungsgebot; um einer Gewaltorgie die letzten moralischen Hemmungen wegzusprengen, bündelte er den Haß auf die Roten mit dem auf die Juden im Feindbild des jüdischen Bolschewismus und verfügte die Gleichzeitigkeit der Ausrottung des europäischen Judentums und des millionenfachen Mordes an sowjetischen Gefangenen. Nur der Krieg, so dozierte er, würde verhindern, daß „der graue Alltag und die Bequemlichkeit des Lebens die Menschen wieder in ihren Bann schlagen und wieder zu Spießern machen“.

Nichts von alledem findet sich bei unserem Autor. Der Holocaust findet ohne und außerhalb des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges statt, er bedarf offensichtlich dessen Gewaltorgien und Blutbäder nicht als Kur gegen Verspießerung und moralische Skrupel. Es reicht Goldhagen, daß der Krieg den europäischen Kontinent erobert, damit „die deutsche Führung ungestört mit der Vernichtung der Juden beginnen“ kann, für den weiteren Fortgang bedarf er seiner nicht. Die Polizeibataillone morden wie im tiefsten Frieden, die Todesmärsche finden in einem seltsam entrückten Intermundium statt. Wo der Krieg sich doch in dieses Konstrukt hineindrängt und auf die Einheit von Zeit, Ort, Gewalt und Opfern hinweist, da schottet Goldhagen sein Präparat auch mal mit einer glatten Geschichtsfälschung gegen die Wirklichkeit ab: So als wenn der „Generalplan Ost“ mit seinen Todeskarten ein Phantasieprodukt gewesen sei, behauptet er, es habe „keine dringliche Slawenfrage“, „keine einheitliche Politik“, „keine Verteufelung der Slawen“ gegeben; oder als ob er den am 6. Juni 1941 ergangenen und fast ein Jahr exakt befolgten Kommissarbefehl nicht wahrnehmen wolle, behauptet er: „Die Wehrmacht war strikt gegen den Befehl zur Tötung der Sowjetkommissare [...], aber nicht gegen den Befehl zur Tötung der sowjetischen Juden.“

Goldhagen verspricht, er werde versuchen, „sich in Gedanken an die Stelle der Täter zu versetzen, [...] mit ihren Augen zu sehen“. Doch schon bei der Feststellung, die Angehörigen der Polizeibataillone hätten in Institutionen Dienst getan, „in denen es ein großes Maß an Freiwilligkeit gab, die nie direkten Druck auf sie ausübten“, kommen einem Zweifel. Immerhin waren diese Einheiten Teil der SS und unterstanden in ihren Einsätzen den höheren SS- und Polizeiführern, Himmlers ergebensten Gefolgsleuten. Auch der Hinweis, bei den Todesmärschen seien die Juden – gegen einen ausdrücklichen Befehl Himmlers – weiter erschossen und ermordet worden, verschweigt, daß damit ein früherer Befehl nicht aufgehoben war, wonach Nichtmarschfähige und Flüchtlinge zu erschießen waren. Offensichtlich soll der Handlungsspielraum der Akteure künstlich vergrößert werden, um ihre Grausamkeit um so deutlicher zur Erscheinung zu bringen.

Der Verdacht auf Manipulation verstärkt sich, wenn den Tätern bei ihrem grausigen Tun durchweg „Wohlbefinden“, „Vergnügen“, „Spaß“ oder „Befriedigung“ attestiert wird, und jede Vermutung, die der in den Anmerkungen wütend verfolgte Antipode Browning äußert, es könne sich bei abweichendem Verhalten mancher Polizisten um einen Reflex von „Scham“ handeln, sofort und scharf zurückgewiesen wird.

Der Rausch der Gewalt

Nun hat aber der amerikanische Historiker Bankier in einer akribischen Studie unlängst nachgewiesen, daß bei vorhandenem Konsens mit der offiziellen Judenpolitik die Bevölkerung kritisch und distanziert reagierte, wenn es zu Gewaltmaßnahmen kam – so bei den Krawallen 1933, bei den Pogromen am 9. November 1938, bei der Einführung des Judensterns 1941 und bei den danach einsetzenden Deportationen. Dahinter steckte nicht Scham, aber doch ein Rest von moralischem Skrupel, die vor dem Krieg auf befürchtete Sanktionen des Auslands reagierten, im Krieg und vor allem, als sich die Niederlagen häuften, durch die Angst vor der Rache der Sieger aktiviert wurden. Die Menschen in der „Heimat“ konnten sich, wie Bankier beschreibt, in ein Nichthinsehen und Nichtwissenwollen zurückziehen, um Konflikte mit den inneren Stimmen und den äußeren Institutionen auszuweichen; den Männern an der Front war dieser Weg verwehrt. Wie konnten sie – sofern sie dieselben Hemmnisse hatten – dann morden? Woher kam ihre Grausamkeit?

Diese Fragen lassen sich anhand einer Tätergruppe beantworten, die noch zahlreicher und „normaler“ ist als das von Goldhagen gewählte Sample. Gemeint sind die Soldaten der Wehrmacht, die anders als Goldhagen vermutet, auch aktiv am Holocaust beteiligt waren. Sie wußten beim Einmarsch: „Jeder Jude hatte seinen Totenschein doch in der Tasche“ (General von Erdmannsdorff), und sie forderten, ihn einzulösen – im Gespräch: „Die Juden müssen weg“ (Klepper) oder beim Einmarsch als Zuruf an die Besiegten: „Jude kaputt!“ (Schwarzbuch).

Goldhagens These vom bösartigen und tief verankerten Antisemitismus wird dadurch bestätigt. Den Weg vom Wissen oder vom Wünschen zum Mord aber kann sie nicht erklären. Der führt über ein Bündel von Maßnahmen und Erfahrungen, die allesamt mit der Wirklichkeit des Krieges zusammenhängen. Wenn der Judenmord als militärische Notwendigkeit dargestellt und gefordert wurde – Juden sind Partisanen, unnütze Esser, oder, in den Ghettos, Träger von Seuchen – wenn Befehle argumentierten, daß dieser Schicksalskampf des deutschen Volkes nur unter Einsatz äußerster Härte und unter Zurückstellung aller moralischen Bedenken siegreich beendet werden könnte, dann wurde mit solcher Indoktrination ermöglicht, die kriminellen Elemente des Krieges zunehmend als „normalen Teil“ des Einsatzes zu erfahren und wahrzunehmen (Bartov).

„In solchen Situationen“, schreibt Norbert Elias, „können Gruppen [...] in eine Eskalationsdynamik geraten, die ihre kollektiven Phantasien zunehmend betont und sie zu einem zunehmend realitätsblinden Verhalten verleitet.“ Dies alles beseitigte Hemmschwellen und schuf Raum für das Eigentliche, das Morden. Was an den Freikorpsmännern so eindrücklich zu studieren ist, das „Geborenwerden“ in der Explosion der Gewalt (Theweleit), das macht der Vernichtungskrieg zur permanenten und für jeden Waffenträger zugänglichen Droge. In der Meute erloschen die letzten Warnlichter der Moral. Sie erlaubte endlich „das Töten ohne Schuldgefühl“ (Sofsky). Im Exzeß befreite sie sich auch noch vom Motiv, erst jetzt, jenseits davon, wurde Grausamkeit möglich.

Eine Vielzahl von Ursachen haben den Holocaust möglich gemacht, nur aus einem Knäuel von Motiven – langwirkenden Verhaltensmustern und situativen Umständen – ist das Verhalten der Täter zu entwirren. Goldhagens Reduktion auf die ideologische Konstante des Antisemitismus wirkt demgegenüber redundant und erweist sich bei fortschreitender Analyse als das Gegenteil von Wissenschaft – als Tautologie.

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