: Kleiner Bruder beobachtet dich
Zur Verbrechensbekämpfung setzt die britische Polizei auf flächendeckende Videoüberwachung öffentlicher Räume – eine Boomindustrie, die Bürgerrechtler ängstigt und Kriminologen kalt läßt ■ Aus London Tom Levine
Frederick Brown kam ins Schwitzen. Hinter ihm stand der halbe Bezirksrat von Southwark, der höchste Polizist Südlondons, Hugh Blankin, und Bezirksbürgermeister Gary Fraser. Vor ihm wurde gerade ein Juwelierladen ausgeraubt.
Sechs Jugendliche rannten in den Laden, lenkten das Personal ab und die Auslagen in die Hosentaschen, zogen wieder davon. Vor dem Laden auf der Peckham High Street begann ein hektisches Jackentauschen und Mützenwechseln zwecks besserer Tarnung, dann verschwand der Pulk samt Diebesgut in alle Richtungen. Wie im Fernsehen.
Bloß wußte die Gang nicht, daß wirklich die Kamera lief. Die Prominenz hinter Frederick Brown spendete Beifall, als der „Operator“ die unfreundlichen Juwelierbesucher erst in die Totale nahm und dann einen aus der Bande über mehrere Kameras hinweg verfolgte. Auf den beiden Bildschirmen, die vor Brown in die Kontrollkonsole eingebaut sind, war die anschließende Verhaftung zu sehen. Peckham Closed Circuit Television zeigte gleich während der Eröffnungsbesichtigung, wozu es gut ist.
Begeistert war nicht nur Polizeichef Blankin oder Bezirkssozi Gary Fraser. Auch Stan Dubeck, der in der Stadtverwaltung für das Peckham Regeneration Project verantwortlich ist und nebenbei Stipendien verwaltet, läßt sich hinreißen: „Es war in der Tat etwas unglaublich. Wir hätten so was eigentlich inszenieren müssen.“ Hätten sie aber nicht, verspricht er vorsichtig, genausowenig wie den 85prozentigen Rückgang der Straßenkriminalität, den die Statistiken ihm drei Monate nach Frederick Browns großem Tag und dem öffentlichen Anschalten der Kameras anzeigen. „Das CCTV-System ist ein Erfolg, das ist unbestreitbar.“
So was würde den britischen Innenminister freuen. 15 Millionen Pfund (rund 33 Millionen Mark) hat der glück- und glanzlose Michael Howard 1995 für CCTV (Videoüberwachung) bereitgestellt. Mit Erfolg, wie Unterstaatssekretär Boys Smith Anfang des Jahres im Innenministerium verkündet: „Fast die Hälfte aller Kommunen haben inzwischen CCTV in ihren Stadtzentren installiert.“ Nirgendwo sonst auf der Welt gucken so viele Kameras den Leuten beim Einkaufen zu.
Dank konsequenten Dauerfeuers aus allen Rohren konservativer Politik und Presse, aber auch dank real zunehmender Kriminalität ist die Angst vor dem Verbrechen zur Lieblingsfurcht der Briten geworden – bisweilen sogar vor der Angst vor Europa. So wuchs, erinnert sich Hilary Kitchin vom Kommunalverband Local Government Information Unit, „der Druck auf die Kommunen, doch auch endlich etwas zu tun, ins Unermeßliche“. Selbst den stets protestbereiten Bürgerrechtlern der Menschenrechtsgruppe Liberty blieb nichts übrig, als um Mäßigung zu bitten und Grundregeln einzufordern.
„Die ganze CCTV-Begeisterung ist zum großen Teil symbolisch“, spöttelt Peter Squires. Der Professor für Kriminologie an der Universität Sussex in Brighton hört Geschichten wie die von der Juwelenbande in Peckham stets mit Ungeduld an: „Das ist schön, ja, aber diese ganzen Geschichten überstehen kaum eine kritische kriminologische Betrachtung.“
In Brighton, dem Seebad an der englischen Südküste, hat Squires vor zwei Jahren Anschauungsmaterial für solch eine Untersuchung bekommen: 67.676 Kameras stehen in der Innenstadt und an der Seepromenade herum. Die Stadt erteilte der örtlichen Universität den Auftrag, das System zu evaluieren. „Das Erstaunlichste, was wir herausgefunden haben“, doziert der Professor, „ist, daß die Kameras selbst wenig Einfluß auf Kriminalität haben.“ Die Stadt habe mit den Kameras vor allem gegen die nächtliche Gewalt vorgehen wollen. „CCTV scheint aber genau auf Gewalt überhaupt keine Wirkung zu haben.“ Squires ahnt, warum: Wenn bei den zumeist jüngeren Leuten, die abends durch die Innenstadt ziehen, Alkohol im Spiel sei, würde die Drohung der Kameras nicht wahrgenommen.
Dafür sind die Jüngeren um so nüchterner, wenn sie nüchtern sind. Es ist die Gruppe der noch nicht 30jährigen, die von der Kriminalität in Brighton am meisten betroffen ist und die dem Kameraverteilen am kritischsten gegenübersteht. „Die höchste Zustimmung“, weiß Peter Squires, „hat CCTV bei Frauen, die tagsüber in der Innenstadt arbeiten, aber nachts nie dort hingehen würden.“ Die wären eben nicht auf Band, wenn sie torkelnd aus dem Pub kommen und dem Konsumkönig Marks & Spencer vor die Tür pinkeln.
Für derartiges Filmmaterial ist nicht nur in Großbritannien, sondern inzwischen auch in Deutschland ein Markt entstanden. Ein hitverdächtiges Video, das von dem TV-Journalisten Barrie Goulding unlängst per Kaufkassette in die britischen Videoläden geliefert wurde, zeigt in unscharfem Infrarot die nackten Tatsachen im Lagerraum eines Buchgeschäfts, wo eine versteckte Kamera gegen Diebstahl installiert war. Für den freien Markt wurde die Kopulationsszene im Fahrstuhl eines Londoner Versicherungsunternehmens, aufgenommen mit einer pfenniggroßen Linse in der Kabinendecke, vorsichtshalber herausgeschnitten. Das Video, ein Zusammenschnitt komischer, gruseliger und peinlicher CCTV-Szenen, ist immer noch ein Bestseller.
Daß die Privatsphäre bedroht ist, wenn überall Kameras herumstehen, ist Barrie Gouldings eigentliches Thema. „Die Regierung, die das Land mit Überwachungskameras überzieht, argumentiert immer: Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten. Wir meinen, das ist doppelzüngig“, erklärte Goulding dem Sunday Telegraph. „Warum gibt es Kameras in Toiletten und Umkleidekabinen?“
Die Bürgerrechtler von Liberty, die die Goulding-Cassette als kommerziellen Voyeurismus ablehnen, haben noch andere Sorgen. „Es gibt viele Leute, deren Verhalten nicht kriminell ist, aber trotzdem auffällt“, heißt es in einem Papier der Gruppe über die „Kontrolle öffentlicher Ordnung“. Die Bürgerrechtler befürchten, daß die Überwachung nicht bei kriminellen Handlungen aufhört. Rund um den Bahnhof Finsbury Park, eine düstere Ecke im nördlichen London, haben Kameras nicht nur das Gefühl der Sicherheit erhöht. Auch die Punker sind verschwunden, die Bettler und die Straßenmusikanten.
Wohin sie verschwunden sind, weiß man nicht. Genausowenig wie man weiß, wohin die Kriminellen gegangen sind, die Taschendiebe, Einbrecher, Vergewaltiger, Schläger. Verbrechensverlagerung wird von Kriminologen als Hauptproblem ortsbegrenzter Kriminalitätsbekämpfung angesehen – und als wahrscheinliche Folge von Kameraüberwachung. In einer Studie des Schottischen Kriminologiezentrums heißt es allerdings, daß „eine wissenschaftliche Aussage über Verlagerung wahrscheinlich nicht möglich ist“.
Nur eines ist klar, sagt Mike Lowe, der Vizeverwaltungschef des Südlondoner Bezirks Sutton: „CCTV hilft, die Folgen der Kriminalität zu vermindern. Die Gründe für Kriminalität bleiben von dieser Form der Intervention völlig unberührt.“
Stan Dubeck, der oberste Bildschirmbeamte von Peckham, teilt die Skepsis seines Verwaltungskollegen. „Selbstverständlich ist der Drogenkonsum nicht verschwunden, weil wir Kameras aufgestellt haben. Er hat sich verlagert. Das reicht mir auch erst einmal.“ Mitgeholfen hat dabei der technische Fortschritt – ohne Eingriff der Polizei. Weil Mobiltelefone in England immer billiger geworden sind, wird in London heute übers Funktelefon gedealt. Der Markt ist flexibler geworden, die Polizei auch. Scotland Yard arbeitet, wie andere Polizeibehörden auch, an einem Positionierungssystem für Handys.
Für den Soziologen William Bogard, der am Whitman College im US-Bundesstaat Washington lehrt, wird das Netzwerk der Kameras nach und nach ohnehin eine andere Aufgabe übernehmen als die Jagd nach Drogenhändlern. „Für mich bedeutet die Entwicklung von Dingen wie CCTV einfach eine weitere Intensivierung von Überwachung, einen Versuch, soziale Kontrolle eher vor- als nachwirkend zu machen.“ Würden die Kameras in Hotels, Casinos, Einkaufszentren, Parkplätzen, Straßen und öffentlichen Plätzen auf die Dauer allgegenwärtig, fühle sich der einzelne ständig beobachtet. „Das allein reicht, um Verhalten zu standardisieren.“
Intelligente CCTV-Systeme prahlen längst nicht mehr mit schicken, 360-Grad-drehbaren Farbkameras, die den Aufdruck einer Zigarettenpackung auf 100 Meter Entfernung lesen können. Die Zukunft von CCTV ist digital. Schon jetzt bietet der Branchenriese IBM Systemlösungen an, bei denen Bewegungsmelder, eine automatische Nummernschilderkennung und andere „intelligente“ Sensoren 99,9 Prozent der Videoaufnahmen als Datenschrott aussortieren.
Die in Florida beheimatete NeuroMetric etwa arbeitet an der digitalen Personenerkennung. Aus einer Menschenmasse filtert ihre Software 20 Gesichter pro Sekunde heraus. Im nächsten Jahr wollen sie, so berichtet Privacy International, ein System vorstellen, mit dem diese Gesichter dann mit einer Datenbank abgeglichen werden können – mit 50 Millionen anderen Gesichtern in Bruchteilen einer Minute.
Offiziell ist derartig intelligente Technik in Großbritannien noch nicht im Einsatz. Wer allerdings in das aus Angst vor Terroranschlägen hochgradig abgesicherte Bankenviertel der Londoner City rollt, braucht nicht anzunehmen, daß die hübschen kleinen Kameras an den polizeibewehrten Schlupflöchern der „square mile“ keine Nummernschilder lesen können. „Die Kameraausrüstung ist auf dem Stand der Technik“, heißt es lapidar bei der Polizei. Mehr will niemand sagen.
Nur in Peckham wird ausgepackt: Erfolgsstatistik, Pressemappe, Erläuterungen. Der jüngsten Ausgabe ist ein gelber Klebezettel beigefügt. Dort ist handschriftlich erklärt, warum es im vergangenen März bei Einbrüchen wieder zu einem leichten, aber etwas merkwürdigen Anstieg gekommen ist. Die Einbrecher, heißt es, kommen jetzt über die Hinterhöfe. Dort stehen keine Kameras.
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