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Arbeiter in Aspik

Das britische Kino ist wieder da! Über Mike Leighs Film „Lügen und Geheimnisse“ – eine Familiengeschichte um eine schwarze Tochter und eine weiße Mutter, in der ein Außenklo eine nicht unwichtige Rolle spielt  ■ Von Mariam Niroumand

Während der Filmfestspiele in Venedig erzählte ein englischer Kollege, bis vor kurzem noch sei ein beliebtes Partyquiz in seinen Kreisen gewesen: „Nenne einen britischen Film der späten siebziger Jahre!“

Dieser Tage werden die Dreharbeiten für einen weiteren britischen Film mit dem bezeichnenden Titel „The Tribe“ abgeschlossen, in dem sich einige unendlich gelassene junge Menschen in einem brenzligen Viertel Londons herumtreiben. Alle reiben sich die Augen: Das britische Kino ist wieder da! Die Leute gehen und sehen britische Filme. „Trainspotting“ hat schon 18 Millionen Dollar eingespielt, man hat fast das Gefühl, die „Angry Young Man“-Filme der sechziger Jahre sind wieder da.

Wo früher zwanzig Filme pro Jahr gedreht wurden, sind es jetzt achtzig. Mike Leigh hat in Cannes mit „Lügen und Geheimnisse“ die Goldene Palme gewonnen. Stephen Frears „The Van“, über zwei arbeitslose Iren, die sich durch eine mobile Würstchenbude aus der Depression hieven, startet mit etlichen Kopien. Ken Loach, der zehn Jahre lang kaum Geld für seine Filme mobilisieren konnte, bekommt die Türen eingerannt. Auch klassische Projekte gedeihen neben dem BritPop. Kenneth Brannagh weiß jetzt schon, daß sein „Hamlet“ (für 19 Millionen Dollar) „eine hochmoderne Angelegenheit wird, in der es um eine dysfunktionale Familie geht“.

Alles soll mit Stephen Frears „My Beautiful Laundrette“ begonnen haben und natürlich mit Channel Four, dem Fernsehsender, der Independentfilme leben und sterben lassen kann. David Aukin, der die Spielfilmsektion des Senders leitet, erklärte der Village Voice sein einfaches Rezept: Er investiert 18 Millionen Pfund in etwa zwölf Filme pro Jahr (statt in großem Stil viele ein bißchen zu fördern), und vertraut darauf, daß sich die Summe in den nächsten vier Jahren verdoppelt. „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ hat mit seinem 250-Millionen-Dollar- Welterfolg vor allem durch die Kooperation mit Hollywood seine Erwartungen noch wüst übertroffen.

Mike Leigh, der Regisseur solcher Filme wie „High Hopes“, „Life Is Sweet“ oder „Naked“, ist bisher gut mit seiner Ablehnung des großen Filmgeschäfts gefahren. Jedenfalls wird er hartnäckig in Kritikerkreisen als der avancierteste britische Filmemacher gehandelt. „Wenn ich die Wahl hätte, nach Hollywood zu gehen oder mir Stahlnägel in die Augen zu stechen, würde ich die Stahlnägel bevorzugen.“

Allerdings hat Leigh für seinen letzten Film „Secrets and Lies“ sowohl von Channel Four als auch von der französischen Produktionsfirma Ciby 2000 so viel Geld bekommen wie noch nie, insgesamt fast zehn Millionen Mark. Prompt wurde der Film auch in der britischen Presse als „sein bisher zugänglichster“ bezeichnet. „Secrets and Lies“ ist die Geschichte von Hortense, einer jungen schwarzen Augenärztin, die sich nach dem Tod ihrer Pflegemutter auf die Suche nach ihrer wahren Mutter macht, die sie in einem proletarischen Londoner Vorort findet – sie ist weiß.

Über Klassen- und Rassenschranken tasten sie sich vorsichtig aneinander heran; um Cynthia herum (man merkt sich die Namen monatelang) gibt es eine Familie, deren ganzes Geheimnisgefüge durch Hortenses Auftauchen ins Wanken gerät. Cynthias Schwägerin kann nicht schwanger werden, ihr Bruder, ein Berufsfotograf, der von diesen trostlosen Hochzeitsfotos lebt, hat einen alten Freund sitzen lassen, ihre Tochter wußte nichts von einer Schwester, geschweige denn von einer schwarzen Schwester. Von halb komischen, halb dokumentarischen Anfängen gleitet der Film langsam in die griechische Tragödie hinüber – ein Genre, zu dem Leigh seit seinen Theateranfängen eine Affinität hegt.

Eine typische Leigh-Szene ist der Besuch des Bruders bei seiner Schwester Cynthia. Sie ist, wie meist, in Tränen aufgelöst, er zwängt sich, groß und plump wie er ist, durch ihre kleine Tür, und verdruckst sitzen sie dann in der kleinen Küche bei einem Tee aus Teebeuteln. Schließlich geht er in den Garten, wo sich ihr Klosett befindet und entleert sich ausgiebig, während sie von draußen auf ihn einredet. Das Eigentliche können sie sich in ihrer stammelnden, schwitzenden, verdrucksten Hilflosigkeit nicht sagen – als er gegangen ist, weint sie wieder.

Ein belgischer Journalist fragte Leigh in Cannes neugierig, ob es denn tatsächlich in London solche Außenklos gäbe? „Natürlich gibt es das, das gibt es oft! Sie glauben doch wohl nicht, daß ich sowas extra konstruieren lasse?“ Es gibt sie, und Leigh legt sie gern in Aspik. Der Belgier, einen Braten gerochen habend, fragte weiter nach und wollte etwas über Leighs Herkunft wissen. „I'm working class“, zischte der Regisseur, „definitely working class from a place called Manchester. Meine Grundschule war sehr working class.“ Pause. „Ehm, und mein Vater war Arzt.“ Ein Working-class-Arzt? „Nun, wir mußten über der Chirurgie wohnen.“ Das stimmt, schrieb sein Biograph Michael Coveney, jedenfalls für eine Zeit.

Leigh entstammt einem jüdischen Mittelschichtsmilieu und absolvierte durchaus die Salford Grammar School, wo man ihn mit einem sehr guten Zeugnis verabschiedete, auf dem nur bedauernd stand, er zeige eine brüskierende Eigenwilligkeit. Wer ihn zum Interview trifft, weiß, was gemeint ist. Mit hochgezogenen Augenbrauen prüft er zunächst die Frage, und wenn sie „nicht brillant“ ist, läßt er einen das gern gleich wissen, und wenn sie regelrecht mißbehagt, fliegt man auch schon mal raus.

Nachdem er in London eine Kunsthochschule besucht und sich hauptsächlich mit den Surrealisten beschäftigt hatte, trat er der Habonim bei, einer zionistischen Jugendorganisation, die für Sozialismus und Gemeindesinn eintrat. Inzwischen nennt er sich nicht mehr gern „Jude“, das ist ihm zu bourgois, sondern nur noch „jüdisch“. Dem Londoner Stadtmagazin City Limits gab er auf die Frage, was ihm am meisten Spaß mache, „essen“ an, und auf „Was ist Ihre Vorstellung von einem gelungenen Abend?“: „Ein Film und dann ein Fick.“

Die britische Presse liebt er hingegen nicht so. Ständig hatten sie in der Tatsache gewühlt, daß seine Frau, Alison Steadman, ihm kürzlich mit einem Fernsehdarsteller durchgebrannt war. Es war wohl nicht immer einfach gewesen. In den achtziger Jahren war er, ohne ein Wort zu sagen, für Wochen nach Australien verschwunden; nur aus der griechischen Tragödie, die er anschließend schrieb, erfuhr seine Umgebung, was er dort erlebt hatte. Auch hatten sie – obwohl es ihnen längst besserging – immer in diesem eher schäbigen Haus im eher schäbigen Londoner Bezirk Wood Green leben müssen, obwohl Steadman viel lieber im eleganteren Muswell Hill unterwegs war. Ein Reporter vom Guardian berichtet nicht ohne Genuß, wie er einmal bei Leigh im Büro gesessen hatte, als seine Frau zum Abschied den Kopf zur Tür reinsteckte und rief „See you at ,L'Escargot‘“. Leigh errötete tief.

Ähnlich wie sein Kollege Ken Loach liebt er es, seine Schauspieler im dunkeln darüber zu lassen, was aus ihren Figuren wird. Es gibt auch kein Drehbuch. Der komische Effekt, der auch in betrüblichsten Situationen noch entsteht, ergibt sich aber nicht nur aus dieser Unsicherheit, sondern auch daraus, daß ihre Lage ins griechische Drama herübergezerrt werden soll, ohne daß sie sprachlich oder gefühlsmäßig dafür gewappnet wären. Einzig der Regisseur, der den Ausgang kennt, könnte ihnen helfen.

„Geheimnisse und Lügen“, Regie: Mike Leigh. Mit Marianne Jean- Baptiste, Brenda Blethyn u.a., GB, 1996

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