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Unser täglich Pestizid-Cocktail

In Hopfen, Erdbeeren und Bohnen sind tausendfach mehr Pestizide enthalten als im Trinkwasser. Das EU-Parlament bastelt heute an Grenzwerten  ■ Von Ralph Ahrens

Täglich essen wir knapp zwei Kilo an festen Lebensmitteln und verbrauchen etwa zwei Liter Trinkwasser zum Trinken und Kochen. Lebensmittel sind jedoch weit stärker mit Pestiziden belastet als das Trinkwasser – und dürfen es laut Gesetz auch sein. Diese widersinnige Situation wollen Sozialisten, Grüne und Liberale im Umwelt- und Verbraucherausschuß des Europäischen Parlaments beenden: Die zulässigen Höchstgrenzen für Pestizidwirkstoffe in und auf Lebensmitteln sollen drastisch gesenkt werden, womit sich die EU-ParlamentarierInnen auf ihrer heutigen Sitzung beschäftigen werden.

Die Grenzwerte für Trinkwasser gelten in der EU bereits seit 1983. Ein Liter Trinkwasser darf von keinem Pestizid mehr als 0,1 Mikrogramm und in der Summe nicht mehr als 0,5 Mikrogramm enthalten. Diese Werte orientieren sich an der Leistungsfähigkeit der analytischen Meßgeräte und Methoden: Weniger ließ sich damals nicht mit Sicherheit nachweisen.

Die geltenden Obergrenzen für Lebensmittel sind jedoch weit weniger rigide und sehr uneinheitlich. In Deutschland mischt die Rückstands-Höchstmengenverordnung (RHmV) den täglichen Pestizid- Cocktail der VerbraucherInnen. Hunderttausendfach höhere Werte als in der Trinkwasserverordnung sind keine Seltenheit: Ein Kilo Hopfen darf zum Beispiel neben anderen Pestiziden bis zu 30.000 Mikrogramm des Antimilbenmittels Dicofol und bis zu 10.000 Mikrogramm des Insektengiftes Endosulfan enthalten. Bei Tee sieht es auch nicht besser aus: Ein Kilo Tee darf zwar nur bis zu 2.000 Mikrogramm Dicofol enthalten, dafür aber bis zu 30.000 Mikrogramm Endosulfan.

Die deutsche RHmV orientiert sich an vier EU-Richtlinien für Pestizid-Höchstwerte in Obst, Gemüse, Getreide und Fleisch. In der RHmV wurden Werte für etwa 400 Wirkstoffe festgesetzt. In Brüssel konnte man sich bisher nur auf Obergrenzen für rund 70 Wirkstoffe einigen. Ein für die EU- Kommission unhaltbarer Zustand, denn in den Mitgliedsstaaten sind etwa 700 Pestizide zugelassen. Die Kommission hat die Richtlinie daher überarbeitet und dem Umwelt- und Verbraucherausschuß des EU-Parlaments übergeben. „Wir fordern eine einheitlich niedrige Obergrenze für alle Pestizide von 10 Mikrogramm pro Kilo frische Lebensmittel und wollen maximal nur insgesamt 50 Mikrogramm Pestizide zulassen“, sagt Hiltrud Breyer, EU-Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen und Mitglied im Umwelt- und Verbraucherschutzausschuß. Auch diese Werte orientieren sich wie beim Trinkwasser an der analytischen Leistungsfähigkeit. Die Nachweisgrenze liegt bei Birnen, Blumenkohl und Bohnen allerdings deutlich höher, da im Wasser weniger Störstoffe die Untersuchung behindern.

Die Werte sind ein Signal an die Landwirte: „Der unkontrollierte Einsatz von chemischen Giftstoffen muß zugunsten einer verantwortungsvollen Gesundheits- und Verbraucherschutzpolitik eingeschränkt werden“, sagt Breyer. Dies ist für Hermann Kleemeyer, Chemieexperte des WWF, längst überfällig: Von den 30.000 Tonnen Pestiziden, die 1995 allein auf deutschen Äckern ausgebracht wurden, findet sich viel zu viel in Lebensmitteln wieder. Die Menge entspricht drei Kilo Wirkstoff pro Hektar beziehungsweise 375 Gramm pro Kopf. So waren bei einer bundesweiten Stichprobe im Frühjahr diesen Jahres 85 Prozent aller Erdbeerproben mit Pestiziden, die wie Hormone wirken, belastet. Häufig wurden Procymidon und Vinclozolin, die die Wirkung männlicher Sexualhormone blockieren, gefunden. Aber auch Endosulfan, das das Wachstum von Brustkrebszellen beschleunigt, steckte in den Erdbeeren. „Jeder Verbraucher kann jedoch sein persönliches Risiko senken, indem er Obst und Gemüse aus ökologischem Landbau kauft“, sagt Kleemeyer. Erdbeeren aus ökologischem Landbau waren rückstandsfrei. Doch VerbraucherInnen können auch auf Baby- und Kleinkindernahrung zurückgreifen. Dort gilt bereits hierzulande der geforderte Grenzwert von zehn Mikrogramm.

Mit ihrem Vorstoß machen sich die EU-Experten nicht nur Freunde. Vehement wehren sich die Dachverbände COPA und COGECA, die in Brüssel auch die Interessen des Deutschen Bauernverbandes (DBV) vertreten. Sie haben die Abgeordneten aufgefordert, die Vorschläge abzulehnen, da hier „die für die landwirtschaftliche Urproduktion unverzichtbare Verwendung von Pflanzenschutzmitteln angegriffen wird“. Außerdem hätten die Landwirte nach den EU-Verträgen ein Recht auf Steigerung ihrer Produktivität und Rationalisierung der landwirtschaftlichen Erzeugung. „Doch ist die Union auch dem Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt verpflichtet“, entgegnet Breyer.

Der Industrieverband Agrar (IVA) in Frankfurt, in dem sich Pflanzenschutz- und Düngemittelhersteller zusammengeschlossen haben, bangt um den Absatz der Produkte seiner Mitglieder: „Damit wäre der Einsatz von Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmitteln nahezu unmöglich“, kritisiert Georg Leber vom IVA. Das bisherige System zur Festsetzung von Höchstgrenzen sei international etabliert und habe über Jahrzehnte den Schutz der Verbraucher sichergestellt.

Der Ausgang der Brüsseler Pestizid-Debatte ist offen. Unterstützen ausreichend EU-ParlamentarierInnen die Umwelt- und Verbraucherexperten, müssen sich die Kommission und der Ministerrat mit den Forderungen auseinandersetzen. Aber auch der Druck der Bauern- und Industrieverbände wird sich verstärken. Doch „mag es vielleicht zynisch klingen“, sagt Franz Fischler, EU-Kommissar für Landwirtschaft, „aber gerade die BSE-Krise vermochte den Nachdenkprozeß über die Umorientierung der Landwirtschaft innerhalb der EU zu beschleunigen.“ Er sieht einen zunehmenden Bewußtseinswandel der Konsumenten. Massentierhaltung, Hormon- und Pestizideinsatz sind längst Negativschlagzeilen der intensiven Landwirtschaft. Fischler appelliert an den Unternehmensgeist der Landwirte: „Die Zeiten des Am-Markt- Vorbeiproduzierens in einem geschützten Sektor sollten endgültig vorbei sein.“

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