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Hungrig nach Leben, Freiheit und Erfolg

Ich selbst verdrängte meine Geschichte, schreibt Ignatz Bubis in seiner unter sehr komplexen Umständen zustande gekommenen Autobiographie. Es ist sein zweiter Versuch, zu einem Selbstbild zu kommen, und es ist unfertig geblieben  ■ Von Micha Brumlik

Es ist gerade drei Jahre her, daß die Frankfurter Publizistin Edith Kohn unter dem Autorennamen „Edith Kohn, Ignatz Bubis“ einen Gesprächsband vorlegte, der den Titel „Ich bin ein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ trug. Mit ihr war Bubis in einem zentralen Punkt unzufrieden. Edith Kohns durchaus Anteil nehmende Nachfragen über die Zeit der Judenverfolgung hätten etwas Voyeuristisches gehabt – „so etwas ärgert mich und macht mich traurig zugleich“. Nachzulesen ist dies in Bubis' zweitem Anlauf, der Öffentlichkeit eine Lebensgeschichte vorzulegen. Sie ist unter sehr komplexen Umständen zustande gekommen. Der Autor des hier zu besprechenden Bandes heißt: „Ignatz Bubis mit Peter Sichrovsky“, sein Titel lautet: „Damit bin ich noch längst nicht fertig“ – Die Autobiographie. Gewidmet ist es – in dieser Reihenfolge: der Tochter und seiner Frau. Im Vorspann steht zu lesen: „Ich danke Peter Sichrovsky, ohne den dieses Buch nicht hätte begonnen, und Karin Beiküfner, ohne die es nicht hätte vollendet werden können.“

Spätestens seit Goethes „Dichtung und Wahrheit“ wissen wir, daß Lebensberichte mindestens so sehr Selbstentwürfe sind wie getreue Protokolle. Die Authentizität und ihre Wiedergabe stehen in einem spannungsreichen Verhältnis. Was aber, wenn uns aus einem Text drei Stimmen von drei Personen entgegentreten? So wie in diesem Buch, das die Lektorin ab Mai weiterführte, nachdem Bubis die von Sichrovsky zusammengestellten Textpassagen nicht als authentisch akzeptieren konnte und deshalb die Zusammenarbeit aufgekündigt hatte.

Am Anfang der „Autobiographie“ also ein brillanter jüdischer Journalist aus Österreich, der, wie jetzt bekannt wurde, seine Gaben einer schlechten Sache, dem Nationalpopulismus Jörg Haiders, zur Verfügung gestellt hat. Sein erster Satz beginnt wie eine Reportage: „Das Haus in der Schumannstraße in Frankfurt ist nicht schwer zu finden.“ Das Kapitel ist jetzt als Vorwort von Sichrovsky zu lesen. Das von Bubis selbst verantwortete erste Kapitel (Mitarbeit von Karin Beiküfner) trägt die Überschrift „Deutsch-polnische Kindheit“ und beginnt mit der Feststellung: „Ich wurde am 12. Januar 1927 in Deutschland als siebentes und letztes Kind meiner Eltern Jehoshua und Hannah Bubis geboren.“ Soviel Frankfurt, soviel Deutschland, soviel Familie.

Es scheint, als habe die Vielfalt der Stimmen, die auch aus dem neuen Versuch klingt, ihre eigene Logik. Drückt sich darin nicht auch die Tatsache aus, daß die Autobiographie des führenden Juden in der Bundesrepublik, der ja eine politische Ikone im Kraftfeld unterschiedlicher Interessen darstellt und von diesen mitgeformt wird, gar nicht die eine, eigene, innerste Stimme ist? Oder daß diese eine, eigene, innerste Stimme sich auch im eigenen Buch erst mühselig am Ende durchsetzen kann?

Die Geschichte, die hier erzählt wird, beginnt mit dem im Vorkriegsdeutschland in Breslau existierenden ostjüdischen Milieu. Sie schildert die Emigration der Familie aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Polen 1935, zeichnet ein ebenso anschauliches wie deprimierendes Bild der Jugend im späteren Ghetto Deblin. Diese Jugend ist zunächst durch den Tod der Mutter gekennzeichnet, da ist er 13 Jahre alt. 1942 wird der Junge, inzwischen Ghettobriefträger, Zeuge der geplanten Deportation des Vaters, den er mit seiner Post-Armbinde noch retten kann. Er überlebt die Massaker der zweiten und dritten Deportation, weil er in ein nahe gelegenes Arbeitslager flüchtet. Dort verhindert ein jüdischer Kapo, daß sein Vater – genau wie er – die rettende Arbeitsbewilligung erhält. Der Vater wird nach Treblinka deportiert, der Sohn überlebt, ebenso unauffällig wie schuldbewußt, im „vergessenen Lager“ von Deblin.

Ohne es richtig zu wollen, bleibt Bubis nach der Flucht aus dem antisemitischen Nachkriegspolen in Deutschland. Aus der Lagererfahrung folgt nur: „Ich wollte nicht darüber nachdenken, was geschehen war. Ich war hungrig nach Leben, hungrig nach Selbständigkeit, vielleicht auch hungrig nach Wohlstand. Ich hatte ein fast unersättliches Bedürfnis, meine neu erworbene Freiheit nach allen Richtungen hin abzusichern. Unabhängigkeit war besonders erstrebenswert, und die Grundlage hierfür war Erfolg.“

Das ist das Credo eines frühen Bundesrepublikaners, jene Haltung, die schließlich das „Wirtschaftswunder“ ermöglicht. Womöglich beruht ja ein Teil seiner Beliebtheit im Lande, auf diesem Hintergrundkonsens. Ein erfolgreicher Geschäftsmann als Bundespräsident würde diesem Staat allemal so gut anstehen wie schwäbische Honoratioren oder NSDAP-Mitläufer gehobenen Kalibers. Freilich: 1993 – Bubis ist als Kandidat ins Gespräch gebracht – glaubt er, staatstragend, wie er ist, auf die achten zu müssen, die Juden noch immer als Fremde ansehen: „Eine solche Wahl würde unweigerlich eine Spaltung der Gesellschaft nach sich ziehen.“

Am Anfang von Ignatz Bubis' Karriere stehen Schwarzhandel, Feten, Freundschaften mit sowjetischen Offizieren in Dresden und Berlin, die Leidenschaft für Fußball, Edelmetallhandel und Schmuckgeschäfte. Schließlich der Umzug von Pforzheim nach Frankfurt, Einstieg in das Immobiliengeschäft, Mitarbeit im Rat der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, schließlich 1969 der Eintritt in die FDP. Gerne würde man wissen, ob ihm die in den fünfziger Jahren notorisch rechtsnationalistische Haltung der FDP, die immer für die Verjährung von Naziverbrechen eintrat, entgangen war.

Ab 1969 wird Bubis zu dem öffentlichen Juden, der er heute ist. Erstaunlich muten bei diesem Rückblick die für einen Politiker ungewöhnlich offen zutage tretende Naivität und Kränkbarkeit an. Dem dürfte auch die ohne jedes Verständnis für soziale Bewegungen nachklingende Verbitterung über den Frankfurter Häuserkampf zuzurechnen sein, dessen Hintergründe ein aufschlußreiches Zeugnis für das ist, was die SPD der siebziger Jahre als „Modernisierungskurs“ ansah. Ignatz Bubis beharrt indes auch 25 Jahre später ungebrochen und larmoyant auf dem Recht des Eigentums: „Ich hatte jedoch“, insistiert er, „die Verpflichtung mir selbst gegenüber, meine Investitionen im Rahmen von Recht und Ordnung zu sichern und zu verteidigen. Ich würde heute [...] mit der gleichen Konsequenz mein Eigentum verteidigen. [...] In den Jahren 1972 bis 1976 verlor ich fast alles, was ich in den 15 Jahren zuvor aufgebaut hatte.“ Deshalb seiner Meinung nach zum „Buhmann“ gemacht, wagt sich Bubis im Fassbinder- Konflikt auf die Bühne des Frankfurter Kammerspiels, ließ Eintrittskarten fälschen, verhinderte schließlich mit anderen die Aufführung und provozierte so unter sich links gebenden Intellektuellen die bisher nur vermutbare Äußerung eines völkischen Antikapitalismus, der dem der frühen Nazis in nichts nachstand.

Bei der Auseinandersetzung um die Funde des alten Jüdischen Ghettos am Frankfurter Börneplatz reichte die Energie des Protests freilich nicht mehr aus. Trotz eines Votums der jüdischen Gemeindeversammlung, sich für die Funde einzusetzen, ließ er den Abriß zu.

Bisweilen submissive Vertragstreue wird aus Bubis' Verhandlungen mit Helmut Kohl um die „Neue Wache“ deutlich. Er weihte sie mit ein, um das von ihm selbst mit einer gewissen Skepsis betrachtete „Mahnmal für das ermordete europäische Judentum“ zu ermöglichen. Über den Skandal der Kollwitzschen Pietà als Sammelsymbol für die Toten der Shoah und des Krieges wollte der „Zentralrat der Juden in Deutschland“ hinwegsehen, sofern die einzelnen Opfergruppen aus der berühmten Rede Richard von Weizsäckers vom Mai 1985 genannt würden. Heute stehen auch die „Opfer totalitärer Herrschaft nach dem Kriege“ auf der betreffenden Tafel. Gleichwohl ist Bubis „dem Kanzler bis heute sehr dankbar dafür“.

Das Buch schließt mit der erschütternden Wiederentdeckung eines Teils der verschollenen Familie in Brasilien, die zeigt, wie fragil die umtriebige, um die Zuneigung der deutschen Bevölkerung werbende Persönlichkeit dieses Mannes ist. Das Bild seiner Nichte, eines kleinen, von den Nazis ermordeten Mädchens, löst die quälende Frage aus, ob er, hätte er dieses Bild unmittelbar nach dem Kriege gesehen, in Deutschland geblieben wäre. „In den fünfziger Jahren war es meine Entscheidung, in Deutschland zu bleiben, und ich will sie auch nicht wieder in Frage stellen. Obwohl mir seit meinem Brasilienbesuch manchmal so ist.“

Der Mann, der Bundespräsident hätte werden können, ahnt inzwischen, warum er verzichtete: Er selbst hätte die Rolle nicht ertragen. Was wäre in einem Bundespräsidenten Bubis vorgegangen, hätte man ihm bei einem Staatsbesuch in São Paulo das Bild seiner ermordeten Nichte gezeigt?

Ignatz Bubis (mit Peter Sichrovsky), „Damit bin ich noch längst nicht fertig“ – Die Autobiographie, Campus Verlag, Frankfurt 1996, 292 Seiten, 48 DM

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