: Einsperren, therapieren – und vorbeugen
Sexuelle Gewalttaten empören die Öffentlichkeit. Sie sind die schlimmste Form von Männergewalt. Aber: Die Zahl dieser Verbrechen steigt nicht und könnte durch Täter-Therapien weiter gesenkt werden. Das ist gerade jetzt schwer durchzusetzen ■ Von Jürgen Voges
Mit einem Schweigemarsch zum Tatort haben 2.000 Bürger von Mardorf am Steinhuder Meer vor einer Woche gegen „Angst und Gewalt“ demonstriert. In einem Maisfeld war die Leiche einer 15jährigen Schülerin gefunden worden, die ein unbekannter Mann vergewaltigt und ermordet hatte. Am gleichen Tag hatte die niedersächsische Polizei auch eine verstümmelte Tote, die an der Bahnlinie Braunschweig–Hannover verscharrt war, als eine vermißte 18jährige Schülerin aus Uelzen identifiziert.
Einzelne brutal-spektakuläre Gewalttaten gegen junge Frauen oder Mädchen sind es, die regelmäßig die Öffentlichkeit kurzzeitig aufrütteln. So periodisch wie folgenlos machen sie einen kleinen, wenn auch den schlimmsten Ausschnitt jener Männergewalt zum Thema, der in Frauennotrufgruppen, Mädchen- oder Frauenhäusern die tägliche Arbeit bestimmt.
Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sind ein häufiges Männer-Delikt, Sexualmorde an Mädchen oder jungen Frauen, die ein von Voyeurismus nicht freies öffentliches Entsetzen auslösen, ein eher seltenes. 47.000 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung hat das Bundeskriminalamt im vergangenen Jahr gezählt, darunter 16.000 Fälle des Mißbrauchs von Kindern und rund 6.200 angezeigte Vergewaltigungen; bei diesen waren in vier von zehn Fällen die weiblichen Opfer jünger als 21 Jahre.
Die Statistik des Bundeskriminalamtes über „Sexualmorde“ zählt für 1994 insgesamt 26 Opfer jeglichen Alters, für das vergangene Jahr 13. Dabei wurden im Jahr 1994 acht Mädchen oder junge Frauen unter 21 Jahren und drei Jungen Opfer eines „Sexualmords“, im vergangenen Jahr waren es insgesamt vier Mädchen oder junge Frauen unter 21 Jahren, darunter ein Kind unter 14. Durch „normale“ Straftaten, wie beispielsweise Mißhandlungen durch die Eltern, kamen 1995 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 68 Kinder zu Tode. Im gleichen Jahr forderte der „Kindermörder“ Autoverkehr 402 Opfer.
Die Bezeichnung „Sexualmord“ in der BKA-Statistik ist irreführend. „In der Regel handelt es sich dabei um Verdeckungsstraftaten“, korrigiert der Sprecher des Bundeskriminalamts ein Bild des „Sexualmörders“, der in Horrorfilmmanier seine Perversionen auslebt. Ähnlich wie beim Raubmord sei das Motiv das Interesse an Geheimhaltung der vorangegangenen Sexualstraftat, pflichtet dem der hannoversche Kriminologe Peter Wetzels bei. Der Ruf nach härteren Strafen beseitige dieses Motiv nicht.
Im Rahmen einer großangelegten Opferbefragung, die das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen für das Bundesfamilienministerium durchführte, hat Wetzels im vergangenen Jahr eine Teilstudie über „Sexuelle Gewalt gegen Frauen im privaten und öffentlichen Raum“ vorgelegt, die auch die in der offiziellen Statistik nicht erfaßten, nicht angezeigten Sexualstraftaten einzubeziehen versucht.
Von den 2.100 befragten über 16 Jahre alten Frauen waren 8,6 Prozent im Laufe ihres Lebens mindestens einmal Opfer sexueller Gewalt geworden. In zwei Dritteln der Fälle erlitten die Frauen die Vergewaltigungen oder sexuellen Nötigungen im unmittelbaren sozialen Nahbereich. Die über 20jährigen Frauen nannten sogar bei drei Viertel der gravierenden sexuellen Gewalttaten eine nahestehende Bezugsperson, in der Regel also den Ehemann oder Lebenspartner, als Täter. Nach Wetzels' Studie wurden in einem Fünfjahreszeitraum etwa 690.000 Frauen ein oder mehrmals im sozialen Nahbereich Opfer sexueller Gewalt. Diese Taten kommen in der Regel nicht zur Anzeige, müssen also zur erfaßten Gesamtzahl von jährlich 11.000 Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen noch hinzugerechnet werden. Ort sexueller Gewalt ist weiterhin vor allem die Familie.
Mißbrauchte Kinder fallen ebenfalls überwiegend nicht unbekannten Sextätern zum Opfer. In einem Viertel der Fälle, so schätzt Wetzels, seien Familienmitglieder, zu 50 Prozent Verwandte, Freunde oder Bekannte der Familie, die Täter. Der Mißbrauch durch nahestehende Täter traumatisiert die kindlichen Opfer schwerer und für längere Zeit, als Mißbrauch durch Fremde, da er die Angst in die gewohnte Umgebung bringt. Die Gefahr für das Leben der Kinder scheint allerdings bei unbekannten Tätern am größten.
Obwohl die offizielle Statistik seit 1987 ein anderes Bild zeichnet, ist nach Auffassung des hannoverschen Kriminologen die Zahl der Sexualdelikte in der Bundesrepublik seit langem nicht mehr angestiegen. Auf dem höchsten Stand lagen die registrierten Sexualdelikte hierzulande im Jahre 1964, danach ist ihre Zahl bis zum Jahre 1987 kontinuierlich abgesunken. Den erheblichen Anstieg der registrierten Fälle von Kindesmißbrauch in den Jahren 1987 bis 1992 führt Wetzels auf ein verändertes Anzeigeverhalten zurück.
In den Zahlen spiegelt sich für den Kriminologen die Entwicklung der bundesdeutschen Moral seit den 60er Jahren wider. Generell sei davon auszugehen: „Je liberaler der Umgang mit Sexualität in einer Gesellschaft, desto geringer ist das Risiko sexueller Gewalttaten.“ Eine konservative, repressive Erziehung erhöht nach diesem Befund für Kinder das Risiko, sexuellen Gewalttaten zum Opfer zu fallen. Prüde oder gar mit Schlägen groß werdende Kinder entwickeln ein Zuwendungsbedürfnis, das die Täter ausnutzen; sie sind leichter einzuschüchtern. Umgekehrt stellt Peter Wetzels auch fest: „Sexualstraftäter, wie überhaupt Gewaltkriminelle, waren fast immer selbst einst ein geschundenes und geschlagenes Kind.“ Eine freie, vor allem gewaltfreie Erziehung ist langfristig der beste Schutz vor Sexualstraftaten.
Der Politik bescheinigt der Kriminologe, in der jüngsten Debatte über Sexualmorde relativ besonnen reagiert zu haben. Nach der Anhörung im Rechtsausschuß des Bundestages, die am 9. Oktober nach dem Mord an Nathalie Astner stattfand, hat nur die CSU nach härteren Strafen gerufen. „Zum besseren Schutz der Bevölkerung“, so damals der rechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion Norbert Geis (CSU), solle die Höchststrafe für Kindesmißbrauch von zehn auf fünfzehn Jahre und die Mindeststrafe von einem halben auf ein Jahr heraufgesetzt werden. Der Gesetzesvorschlag der CSU will auch Freigang, Ausgang und die Entlassung auf Bewährung erschweren.
Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) betonte demgegenüber zwar zu Recht, daß „längere Strafen keinen sexuellen Mißbrauch verhindern“. Aber sein schon im Juli erarbeiteter Gesetzentwurf zur Strafrechtsreform sieht exakt die von der CSU geforderten Strafverschärfungen vor, allerdings mit anderer Begründung: „Durch die Anhebung des Strafrahmens soll künftig der sexuelle Mißbrauch von Kindern genauso bestraft werden können wie die Vergewaltigung von Frauen“, so ein Sprecher des Ministeriums. Die körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung von Kindern müsse im gleichen Maße wie die von Frauen geschützt werden. Die Grünen prophezeien allerdings, daß nach einer Anhebung der Mindeststrafe für Kindesmißbrauch weniger gravierende Fälle, bei denen es etwa nur um „unsittliches“ Berühren geht, überhaupt nicht mehr bestraft werden. Deshalb schlägt der rechtspolitische Sprecher der Grünen, Volker Beck, vor, für den schweren Kindesmißbrauch einen gesonderten Paragraphen einzuführen.
Folgenlos bleiben wird der öffentliche Ruf nach der „chemischen Kastration“ durch den Triebhemmer Androcur. Und leider auch die berechtigten Forderungen nach doppelter Begutachtung und nach mehr oder besserer Therapie für inhaftierte Sexualstraftäter. Der ärztliche Direktor des niedersächsischen Landeskrankenhauses in Moringen bei Northeim, Martin Schott, nennt die Debatte über Androcur „kurios“. Das Mittel, das die Produktion von männlichen Sexualhormonen unterdrückt und zu Kastratensymptomen führen kann, wird in Northeim, wo schuldunfähige oder vermindert schuldfähige Straftäter behandelt werden, seit 25 Jahren therapiebegleitend verabreicht. Voraussetzung ist das Einverständnis der Patienten. Bei Männern, die sehr von ihren sexuellen Phantasien bestimmt seien, könne Androcur die Therapie erleichtern. Ersetzen könne es sie in keinem Fall.
In den Maßregelvollzug – wie ins LKH Moringen – werden von den Gerichten psychisch schwer gestörte Straftäter eingewiesen. Dennoch ist die Therapie relativ erfolgreich. Der Strafvollzug verzeichnet hohe Rückfallquoten von – je nach Studie – geschätzten 50 bis 80 Prozent. Aus dem Maßregelvollzug entlassene Patienten werden nur zu 15 bis 20 Prozent rückfällig. So lautet zumindest das Ergebnis einer Untersuchung über den Maßregelvollzug im westfälischen Eickelborn, deren Zahlen auch in der Anhörung des Bonner Rechtsausschusses zum Thema „Schutz vor rückfälligen Sexualstraftätern“ vorgetragen wurden.
Maßregelvollzug kann ein Leben lang dauern. Anders als voll schuldfähige Straftäter, werden die Patienten erst nach einem erfolgreichen Abschluß der Therapie entlassen, wenn sie nach Ansicht der Gutachter keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit darstellen. Dies allein erklärt allerdings nicht die niedrigeren Rückfallquoten: Im LKH Moringen liegt die durchschnittliche Aufenthaltsdauer bei knapp fünf Jahren. Für die dort untergebrachten 290 Männer und zehn Frauen, von denen 30 Prozent Sexualstraftäter sind, stehen 66 Therapeuten – Ärzte, Psychologen, bis hin zum Beschäftigungs- und Arbeitstherapeuten – zur Verfügung. Hinzu kommen 220 Krankenpfleger und 90 weitere Angestellte. In externen Wohngruppen können die Patienten im offenen Maßregelvollzug auf ein selbständiges Leben vorbereitet werden.
Das psychoanalytisch ausgerichtete Moringer Therapiekonzept geht davon aus, „daß die Grundstörung der Sexualstraftäter primär nichts mit Sexualität zu tun hat, sondern mit einem stark defizitären Selbst, einer meist massiven oral-zärtlichen Versagung“ in der Kindheit. Der Therapeut soll den Patienten „liebevoll und unter Beachtung seiner Grenzen wahrnehmen“, damit dieser lernt, „auch andere liebevoll wahrnehmen zu können“. Klinikleiter Martin Schott sieht „mindestens 80 Prozent seiner Patienten als wirklich heilbar an“. In schwierigen Fällen dauert eine Therapie in Moringen sechs bis acht Jahre bei je zwei Sitzungen Einzel- und Gruppentherapie pro Woche.
Die Gefängnisse, in denen die Mehrzahl der Sexualstraftäter einsitzen, sind nicht nur personell schlechter ausgestattet. Schon die kürzere Dauer eines Gefängnisaufenthalts macht eine Langzeittherapie unmöglich. In der Sozialtherapeutischen Abteilung der Justizvollzugsanstalt Hannover, in der seit zwei Jahren 80 Sexualdelinquenten und Gewalttäter behandelt werden, haben die Sexualstraftäter im Durchschnitt etwa dreijährige Strafen zu verbüßen. Da der Verurteilung meist U-Haft vorausgeht und dieser eine Beobachtungsphase im Gefängnis folgt, bleibt in der Regel nur ein gutes Jahr mit zwei Gruppentherapiesitzungen pro Woche, bevor sich nach der Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe die Frage der Entlassung stellt. Immerhin ist in der Abteilung in Hannover die Grundvoraussetzung für eine Therapie von Sexualstraftätern geschaffen worden: In der Knasthierarchie sind diese Täter die Underdogs, haben Anfeindungen und Übergriffe zu fürchten, versuchen, ihre Taten zu verbergen und zu verdrängen. Nur im vom übrigen Gefängnis getrennten Bereichen sind Sexualstraftäter überhaupt therapierbar.
Auch die Anhörung des Bonner Rechtsausschusses hat den Mangel an Behandlungsplätzen und Therapie in den Gefängnissen offen gelegt. Das Bundesjustizministerium sprach von einem „absolut niederschmetternden Bild“. Es fehle schon „an qualifizierten Therapeuten und Gutachtern und selbst noch an Ausbildungskapazitäten an den Hochschulen“, sagt der grüne Abgeordnete Beck. Nur an vier Universitäten werde überhaupt forensische Psychiatrie gelehrt. Die Forderung nach einer Zweitbegutachtung vor einer vorzeitigen Entlassung von Sexualstraftätern, drohe deswegen bereits am Mangel an geeigneten Gutachtern zu scheitern. Beck fordert nicht nur Therapie von Sexualstraftätern im Gefängnis, er will auch nach der Haft „mehr Therapie als Bewährungsauflage“.
„Bei der weiteren Behandlung nach Entlassung aus der Strafhaft mangelt es massiv“, bekräftigt auch Martin Schott. Die Bewährungshelfer seien überfordert mit dieser kritischen Phase, in der sich entlassene Sexualstraftäter im Wortsinne „bewähren“ müßten. Vehement fordern die Grünen, die für Haftanstalten und Hochschulen zuständigen Länder müßten auch in Zeiten knapper Haushalte genug Geld für bessere Therapien in den Gefängnissen bereitstellen und Defizite in der Therapeutenausbildung beseitigen. Volker Beck: „Aber vielleicht muß es hier auch erst zu weißen Demonstrationen wie in Belgien kommen, bevor die Therapie von Gewalt- und Sexualstraftätern verbessert wird.“
Für mehr Therapie wird derzeit allerdings nicht demonstriert. Wie im westfälischen Herten, wo eine ganze Stadt gegen eine neue Straftäterklinik aufsteht, hat auch Martin Schott in Moringen mit einer Bürgerinitiative zu kämpfen, die gegen eine weitere externe Wohngruppe für seine Patienten protestiert.
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