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Ein Zeitalter wird besichtigt

Neil Jordans Film über den irischen Freiheitskämpfer Michael Collins spaltet das Publikum  ■ Aus Dublin Ralf Sotscheck

Jeden Morgen, wenn ich die Zeitungen vom kleinen Eckladen hole, komme ich an seinem Grab vorbei. Michael Collins ist auf dem Friedhof von Glasnevin im Norden Dublins gleich neben der Hauptstraße beerdigt. Um das Grab herum sind Betonplatten in den Boden eingelassen. Am Kopfende steht ein drei Meter hohes Steinkreuz mit gälischer Inschrift. Das Grab ist mit Kieselsteinen bedeckt, meist liegen frische Blumen darauf – Gänseblümchen, rote und weiße Nelken, eine Rose.

Links und rechts vom Grab sind zwei große Rasenflächen in Stein eingefaßt, an den Seiten Gedenktafeln, auf denen rund 400 Namen eingemeißelt sind, und auf zwei anderen Tafeln steht in gälisch und in englisch: „Zur Erinnerung an die Offiziere und Männer der Irisch- Republikanischen Armee.“ Darüber das Wappen von Fianna Fáil, den „Soldaten des Schicksals“, wie Irlands größte Partei heißt. Als sie gegründet wurde, war Collins schon tot – politische Gegner aus Kreisen um die späteren Fianna- Fáil-Gründer hatten ihn in einen Hinterhalt gelockt und erschossen.

Es gibt wohl keinen irischen Politiker, der umstrittener ist als Michael Collins – und das galt zu seinen Lebzeiten genauso wie heute. Collins wurde im Oktober 1890 in Woodfield in der irischen Grafschaft Cork geboren. Das strohgedeckte Cottage, in dem er aufwuchs, ist 1921 von englischen Söldnertruppen, den Black and Tans, niedergebrannt worden. Die Ruine ist heute ein inoffizielles Nationaldenkmal. Mit 16 wanderte Collins nach London aus, arbeitete als Bürogehilfe und kehrte rechtzeitig zum Osteraufstand 1916 nach Irland zurück. Die Rebellion scheiterte kläglich, die Anführer wurden hingerichtet, und Collins wurde in Wales interniert. Zum Jahresende war er wieder in Irland.

Dort hatte sich die Haltung der Bevölkerung inzwischen gewandelt. War man dem Osteraufstand gegenüber zunächst gleichgültig oder sogar ablehnend, so weckte das brutale Vorgehen der britischen Besatzer den Widerstandsgeist. Bei den Parlamentswahlen 1918 gewann Sinn Féin, der politische Flügel der IRA, 73 von 105 Mandaten. Die Partei rief im folgenden Januar die Republik aus, der Krieg um die Unabhängigkeit begann.

„Collins wurde ein gefeierter Republikaner und ein meisterhafter nachrichtendienstlicher Organisator, der tiefe Loyalität bei seinen Genossen hervorrief und haßvolle Angst bei seinen britischen Gegnern“, heißt es auf der Informationstafel am Collins-Cottage. Gemeint ist Collins' Guerilla- Taktik, mit der er die britischen Truppen an den Rand der Niederlage brachte. Er beschaffte Waffen, identifizierte britische Agenten und ließ sie von seinen IRA- Einheiten erschießen. Im Juli 1921 bot die britische Regierung einen Waffenstillstand an.

Sinn-Féin-Chef Eamonn De Valera, der nach dem Osteraufstand nur deshalb nicht hingerichtet wurde, weil er in den USA geboren war, sandte Collins als Chefunterhändler zu den Verhandlungen nach London. Collins kam mit einem Vertrag zurück, der weit hinter seinen eigenen Vorstellungen zurückblieb: Irland wurde Freistaat, die Beamten mußten weiterhin einen Eid auf die britische Krone schwören, und die sechs nordöstlichen Grafschaften blieben bei Großbritannien. Collins sah es als Übergangslösung an, war sich aber bewußt, daß „er sein eigenes Todesurteil unterschrieb“, wie es auf der Tafel am Cottage heißt.

Zwar ratifizierte das Dubliner Parlament den Vertrag, doch De Valera und seine Anhänger lehnten den Vertrag ab. Es kam zum Bürgerkrieg, Städte, Dörfer und vor allem Familien waren tief gespalten, manche sind es bis heute noch. Für die einen ist Collins ein Verräter, für die anderen ein Nationalheld. Als er nach Cork fuhr, um mit De Valera über einen Waffenstillstand zu verhandeln, wurde er in der Nähe des Cottages, wo er aufgewachsen war, ermordet.

Die Stelle ist nicht leicht zu finden, nur ein kleines Kreuz mit gälischer Inschrift erinnert daran. Sein ehemaliger Kampfgenosse De Valera, der später seine Meinung über den Vertrag änderte, Fianna Fáil gründete und Regierungschef wurde, stimmte der Errichtung des Kreuzes nur unter der Bedingung zu, daß es „so diskret sei, daß nur seine glühendsten Verehrer es verstehen“ würden.

Eine komplizierte Geschichte. Der irische Regisseur Neil Jordan hat einen Film über das kurze Leben des Michael Collins gemacht, und schon zwei Wochen nach der irischen und britischen Premiere steht fest, daß „Michael Collins“, wie der Film heißt, alle Rekorde brechen und „Independence Day“ überrunden wird. In Irland läuft der Streifen in mehr als siebzig Kinos, in manchen Multiplexhäusern gibt es täglich zwölf Vorstellungen. Zeitungen, Zeitschriften, Radiosendungen und Fernsehtalkshows beschäftigen sich eingehend damit. Zum Jahresende wird es auf der Grünen Insel wohl niemanden geben, der den Film noch nicht kennt. Selbst meine Schwiegermutter hat ihn bereits gesehen. Es war der zweite Tonfilm in ihrem Leben. An den ersten in den vierziger Jahren kann sie sich nicht mehr erinnern. Ihr Urteil über „Michael Collins“: „Fantastisch!“

Die Hollywood-Produktion hat 30 Millionen Pfund, umgerechnet also 75 Millionen Mark gekostet. Die Titelrolle spielt der Nordire Liam Neeson („Schindlers Liste“), Collins' Freundin Kitty Kiernan wird von Julia Roberts dargestellt. Alan Rickman ist Eamonn De Valera, Collins' Freund und Rivale um die Gunst von Kitty Kiernan, Harry Boland wird von Aidan Quinn gespielt.

Voriges Jahr, als die Dreharbeiten begannen, kamen die Hauptdarsteller zum Glasnevin-Friedhof und legten ein paar Blumen auf das Grab von Michael Collins. Als sie sich nach Joe O'Reilly, Collins' Adjutanten, erkundigten, schickte der Friedhofsangestellte sie in die hinterste Ecke des riesigen Friedhofs: Dort, in einem Armengrab ohne Stein, lag angeblich Joe O'Reilly. Das ließ Liam Neeson keine Ruhe. Bei einem Interview im irischen Fernsehen vor zehn Tagen gelobte er, O'Reilly einen anständigen Grabstein zu stiften. Am nächsten Tag rief O'Reillys Familie beim Fernsehen an und fragte, ob man noch alle Tassen im Schrank habe: O'Reilly sei keine 50 Meter von Collins entfernt beerdigt und habe einen Grabstein, der sich sehen lassen könne. Der Friedhofsangestellte hatte der Filmcrew das Grab von Joseph O'Reilly gezeigt, einem Tischler aus Finglas.

Gewalt zeigen und Gewalt rechtfertigen

Bei den diesjährigen Filmfestspielen in Venedig wurde „Michael Collins“ mit dem Goldenen Löwen für den besten Film und den besten Hauptdarsteller ausgezeichnet. In England hagelte es dagegen schon lange vor der Premiere Kritik. Man warf Jordan historische Ungenauigkeiten vor. Als ob es darum geht. War „Gandhi“ historisch akkurat, oder „Iwan der Schreckliche“? Nein, die Engländer mögen den Film nicht, weil er zu deutlich die Greueltaten zeigt, die von den englischen Söldnertruppen angerichtet wurden. Die Kritiker behaupten, das käme einer Rechtfertigung der heutigen IRA gleich. Aber „Michael Collins“ ist beileibe kein IRA-Propagandafilm. Wenn er überhaupt zum Vergleich mit der aktuellen Situation in Nordirland taugt, dann lautet seine Botschaft, daß Verhandlungen der Gewalt vorzuziehen sind, denn De Valera und die IRA-Einheiten kommen dabei nicht gut weg. Allerdings stellt Jordan sie nicht als mordlüsterne Bagage dar, wie es bei diesem Thema in britischen Produktionen der vergangenen 75 Jahre meist der Fall war, sondern als normale Menschen mit politischen Idealen. Das ist bei Jordan keineswegs selbstverständlich: Man erinnere sich zum Beispiel an „Angel“, wo die IRA-Leute als Psychopathen daherkommen.

Warner Brothers hatte Jordan für den Collins-Film während des IRA-Waffenstillstands grünes Licht gegeben. Als die Waffenruhe im Februar zusammenbrach, wurde man nervös. Die britische Premiere wurde verschoben, und in Nordirland gab es eine geheime Vorführung für die Kinobesitzer. Sie sollten sich ihr eigenes Bild machen, um zu entscheiden, ob sie den Film zeigen wollten. Sogar US- Präsident Bill Clinton soll Druck auf die Filmgesellschaft ausgeübt haben. Am Ende ließ sich Warner Brothers nicht beirren, schließlich hatte man eine Menge Geld investiert.

Ein anderer Film, „Devil's Own“ mit Brad Pitt über einen IRA- Mann auf der Flucht, muß dagegen noch warten. Columbia hat den Film auf Eis gelegt und „beobachtet die politische Situation in Nordirland“, sagte ein Sprecher. Der irische Journalist und selbsternannte „Geschichtsrevisionist“ Eoghan Harris hätte „Michael Collins“ dasselbe Schicksal gewünscht. Er habe sich nach der Vorführung übergeben müssen, sagte er, und die schriftliche Auseinandersetzung mit Jordan füllte mehrere Seiten in der Irish Times.

Freilich spielten persönliche Gründe dabei eine Rolle: Harris hatte auch ein Manuskript über Michael Collins geschrieben, und fast wäre es vor zehn Jahren von Columbia verfilmt worden. Doch dann wurde es Opfer des Wettbewerbs zwischen Coca Cola und Pepsi. Der britische Produzent David Puttnam wurde 1986 Chef von Columbia und fand Harris' Skript: „Mick“ sollte von Michael Cimino („The Deer Hunter“) gedreht werden. Damals gehörte Columbia zum Coca-Cola-Imperium, und als die Herren der braunen Brause Wind von der Sache bekamen, kippten sie den Film. In Großbritannien war Coca Cola, das dort von Cadbury Schweppes vertrieben wird, nämlich Großlieferant für die britische Armee. Puttnam sagte, Dominic Cadbury habe eine Warnung von der Armee bekommen: Werde der Film gedreht, würden britische Soldaten fortan Pepsi trinken.

Jordan hatte ein anderes Problem: Warner Brothers verlangten von ihm ein Happy-End. Die irischen Schauspieler hielten das zuerst für einen Witz, doch es war ernst gemeint: „Wir wollen nicht, daß unsere Helden sterben.“ Am Ende stirbt Collins trotzdem, und Neeson hat mit dieser Rolle sein Meisterstück abgeliefert. Die Kameraführung von Chris Menges ist ebenfalls hervorragend. Jordan hatte gar nicht mehr mit ihm gerechnet, weil er inzwischen selbst ein erfolgreicher Regisseur ist, doch Menges erinnerte sich an sein Versprechen aus dem Jahr 1983, als Jordan das Manuskript schrieb. Und Alan Rickman ist in seiner Nebenrolle Oscar-verdächtig – wie der ganze Film, der mir ausgezeichnet gefallen hat, weil er seine Geschichte spannend erzählt, ohne daß man geschichtliche Vorkenntnisse haben muß.

Jordan ist dabei durchaus akkurat, das bestätigte Michael Collins' gleichnamiger Cousin. Der 72jährige saß bei der Premiere neben Liam Neeson und hatte nur eins zu monieren: „Mein Vetter hätte niemals so geflucht.“ Und vielleicht spielt Julia Roberts die Rolle der Kitty Kiernan, die sich zwischen Collins und Boland entscheiden muß, ein wenig zu vornehm. Aber ihre beiden Söhne, in den späten Zwanzigern geboren, finden das nicht.

Jordans nächster Film ist bereits abgedreht und muß nur noch geschnitten werden. „Der Schlächterbursche“ nach einem Roman von Patrick McCabe kommt Weihnachten in die Kinos. Liam Neeson wird als neues Projekt die Hauptrolle in einem von zwei konkurrierenden Filmen über Oscar Wilde übernehmen. Im anderen spielt seine Schwiegermutter Vanessa Redgrave. „Ich bin gespannt, wer die Rolle des Wilde-Liebhabers Bosie bekommt“, sagte Neeson, „denn ich werde ihn wohl küssen müssen.“

Der Termin für den deutschen Filmstart ist der 20. Januar 1997

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