Land der Arbeiterin

Im schon halb verlassenen Gebäude der Wolfener Filmfabrik Agfa/Orwo zeigt eine Ausstellung die Geschichte des mitteldeutschen Braunkohle- und Industriereviers – einer alten Region der Frauenemanzipation  ■ Aus Sachsen-Anhalt Helmut Höge

„Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?“

Hannah Arendt 1958

„Bilder und Legenden aus dem mitteldeutschen Industrierevier“, so heißt eine Ausstellung der Stiftung Bauhaus Dessau, die am 30. Oktober auf den Fluren und im Hörsaal des Verwaltungsgebäudes der Filmfabrik Agfa/Orwo in Wolfen eröffnet wurde. Auch das Zitat von Hannah Arendt gehört dazu. Bereits die Zugfahrt von Berlin über Bitterfeld nach Wolfen führte in das Thema ein: Auf den meisten Plätzen des bonbonfarbenen Interregio saßen Frauen, die sich auf dem Weg nach Hause weiterbildeten – sie blätterten in Akten, Führerscheinunterlagen, Software-Programmen oder Gesetzestexten. Im Mitropa-Bistro unterhielten sich zwei ältere dauergewellte Geschäftsführerinnen von Beschäftigungsgesellschaften über anstehende ABM-Kürzungen. In den Abteils der ersten Klasse saßen dünne, kurzhaarige junge Karrierefrauen, die immer mal wieder eilig an das Kartentelefon gingen, um ihre Ankunft anzukündigen oder Verabredungen zu treffen.

Das mitteldeutsche Braunkohlen- und Industrierevier ist schon lange eine Region weiblicher Berufstätigkeit – nicht immer in der freiwilligen Variante. Das erste Großkraftwerk, Zschornewitz, wurde 1915 in erster Linie von Frauen erbaut – die Männer befanden sich im Krieg. Auch im Zweiten Weltkrieg waren es primär die Frauen, die die dort ansässige kriegswichtige Produktion ausbauten, hinzu kamen bald Zwangsarbeiterinnen aus West- und Osteuropa. Nicht minder groß war dann der Frauenanteil am Wiederaufbau der Industrieanlagen nach 1945. Bis zuletzt, 1990, waren von 15.000 Beschäftigten in der Wolfener Filmfabrik fast 9.000 weiblich. Orwo war damit der größte Frauenbetrieb der DDR, er wurde von einer Frau geleitet (siehe unten). Frauen waren es auch, die das riesige Werk nach der Wende wieder abrissen – auf ABM-Basis. Von den zuletzt 1.500 Entsorgungsstellen werden jedoch bis zum Jahresende nur noch maximal 150 übrigbleiben.

Überwiegend Frauen waren es auch, die auf die Barrikaden gingen, als die Treuhand-Nachfolgeorganisation Mitte vergangenen Jahres Massenentlassungen bekanntgab. Von den damals 3.300 ABM-Kräften, die in den zwei Beschäftigungsgesellschaften GÖS- Wolfen und ÖSEG-Bitterfeld konzentriert waren, sollten rund die Hälfte gehen. Es kam zu Straßenblockaden und Demonstrationen, an denen sich 7.500 Menschen beteiligten. In dieser Region sei das „die größte Demo seit der Wende“ gewesen, schrieb die Mitteldeutsche Zeitung.

Mit Trümmerbeseitigung begann die berufliche Karriere vieler Arbeiterinnen des mitteldeutschen Industriereviers, mit Trümmerbeseitigung endete sie nach der Wende. Doch zur Ausstellungseröffnung war so gut wie keine der Orwo-Frauen gekommen. „Die wollen davon noch nichts wissen, zu tief ist die Enttäuschung über den Arbeitsplatzverlust“, kommentierte der Noch- Betriebsratsvorsitzende Hartmut Sonnenschein. „Das dauert auch noch mindestens fünf Jahre, bis sie wieder hierherkommen und sich Ausstellungen wie diese hier angucken können. Dann werden sie wahrscheinlich sogar stolz sein: ,Hier habe ich mal gearbeitet!‘“

„Schafft Arbeit, darauf kommt es an!“ hatte vor 200 Jahren Fürst Franz-Leopold III. von Anhalt- Dessau erklärt, als er nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges als einer der ersten aufgeklärten Fürsten Deutschlands sein Land aus bitterer Armut zu einem prosperierenden Kleinstaat dirigierte. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde dann die Braunkohle buchstäblich zur Basis für das Industrierevier zwischen Dessau, Wittenberg und Bitterfeld. Dessen musealisierte Reste – vom Riesen- Braunkohlebagger-Ensemble in Golpa-Nord („Ferropolis“) über das „Kraftwerksdenkmal Zschornewitz“ bis zum Wolfener Filmmuseum – mutieren nun zu einem Erlebnis- und Freizeitpark, der als „Korrespondenzregion“ für die Hannoveraner „Expo 2000“ ausgewiesen ist und von der „Expo“- Chefin Birgit Breuel finanziell gefördert wird. An der Umsetzung ist das Bauhaus Dessau beteiligt, das gestern seinen 70. Geburtstag feierte. Es besteht aus der Akademie, dem Archiv und der Werkstatt. „In der ,Werkstatt‘ macht man gerne Pläne zum sanften Tourismus, Masterpläne und Spaziergangsforschung“, erklären die beiden Dokumentarfilmer Kerstin Stutterheim und Niels Bolbrincker, deren Ausstellung „Land der Arbeit“ nun schon das dritte Bauhaus-Projekt über das Industrierevier ist. „Die jetzigen Bauhaus-Mitarbeiter sind zwar zum großen Teil aus dem Osten, sie haben aber etwas Manschetten, sich dem gemeinen Volk zu nähern.“ Es gibt jedoch ein Frauenprojekt, auf das diese Einschätzung nicht zutrifft. Die ehemalige Orwo-Kombinatssoziologin und jetzige Bauhaus-Mitarbeiterin Babette Scurrel versucht in Wolfen mit arbeitslosen Filmarbeiterinnen „Häuser der Eigenarbeit“ zu realisieren, das heißt, Eigenheime auf ABM-Basis zu errichten.

Daneben gibt es in Wolfen noch einen aktiven Frauenverein, der im eigenen Haus im Neubaugebiet Wolfen-Nord Beratungen durchführt. Die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt, die frühere Säuglingskrankenschwester Renate Schenk, hält dort unter anderem Existenzgründerinnen-Seminare ab. Anstelle des Bürgermeisters, ihres Vorgesetzten, war sie bei der Ausstellungseröffnung zugegen. „Die Frauen haben die Wende besser überstanden als die Männer, weil sie flexibler sind“, meinte sie. „Sie haben sich schneller aus der Arbeitslosigkeit hochrappeln können, sie versuchen, etwas Neues anzufangen.“

„Die Ausstellung ist der Versuch, eine Brücke zu schlagen vom ,Land der Arbeit‘ zu etwas Neuem“, bemühte sich auch Harald Kegler vom Bauhaus Dessau in seiner Eröffnungsrede um Optimismus. Der entbehrt leider jeder Grundlage: Ebenso wie die ausgestellten Fotografien und Texte noch kein utopisches Moment enthalten, kämpft auch die Region derzeit vor allem mit den Folgen der stupiden Treuhand-Deregulierung, die sie auf die brutalen Besitz- und Politikverhältnisse der dreißiger Jahre zurückwarf.

Seit ihrem Machtantritt hatten die Nationalsozialisten eine Politik der Autarkie vom Weltmarkt verfolgt. In Leuna und an drei anderen Standorten „auf der Braunkohle“ ließen sie Hydrierwerke zur Produktion von „deutschem Benzin“ errichten. Nach 1945 wurden die Fabrikbesitzer als Kriegsverbrecher enteignet und das mitteldeutsche Industrierevier zur Schwerpunktregion für die Autarkiebestrebungen der DDR ausgebaut.

Noch während der Wende entwarfen die westdeutschen Stromkonzerne unter Führung des Branchenriesen RWE für den Fall einer Wiedervereinigung einen „Stromversorgungsvertrag“ – im Kanzleramt. Und damit war klar, daß die Zukunft der mitteldeutschen Braunkohlereviere wieder von den Konzernen an Rhein und Ruhr abhing. Das Lausitzer Revier übernahm die RWE-Tochter Rheinbraun, nachdem zuvor etliche Bergbaubetriebe mit zigtausend Beschäftigten abgespalten worden waren. Diese übertrug die Treuhand dann sogenannten Sanierungsgesellschaften. Sie sollen mit einem jährlichen Aufwand von 1,5 Milliarden Mark und 15.000 ABM- Stellen die alten Tagewerke in Naherholungsgebiete mit Seen und kostbaren Uferimmobilien umwandeln. Auch diese sechs langfristig angelegten „Groß- ABM“-Gesellschaften gehören mittlerweile überwiegend den Energiekonzernen von Rhein und Ruhr – allen voran RWE. Für jede ABM-Stelle kassieren sie 20 Prozent Regiekosten. Und auch bei der Privatisierung des geräumten und sanierten Doppelindustrieparks Bitterfeld-Wolfen wird die RWE wohl das Rennen machen.