: Grufties und Grubenhunde
Schauplatz Monstrositätenkabinett oder der Versuch, die Abstraktionen der Freudschen Psychoanalyse plastisch darzustellen: Jan Schüttes neuer Dokumentarfilm „Eine Reise ins Innere von Wien“ im Hackesche Höfe Filmtheater ■ Von Andreas Seltzer
Als der Film „Psychoanalyse – Rätsel des Unbewußten“ von Hanns Sachs vorbereitet wurde, schrieb Sigmund Freud 1925 an Sándor Ferenczi: „Die Verfilmung läßt sich so wenig vermeiden wie, scheint es, der Bubikopf; aber ich lasse mir selbst keinen schneiden und will auch mit keinem Film in persönliche Verbindung gebracht werden.“ Wenig später wird er in einem Brief an Karl Abraham im Vorbehalt gegen diesen Film noch deutlicher: „Mein Haupteinwand bleibt, daß ich es nicht für möglich halte, unsere Abstraktionen in irgendwie respektabler Weise plastisch darzustellen.“ Doch trotz aller bisher gescheiterten Versuche, etwa John Hustons „Freud“-Film (1962), in dem Montgomery Clift wie ein Jahrmarktshypnotiseur auf der Suche nach Opfern durch k.u.k. Kulissen schleicht – der Wunsch, jene Abstraktionen plastisch darzustellen, ist wach geblieben.
Als jüngstes Beispiel dafür kann Jan Schüttes Dokumentarfilm „Eine Reise ins Innere von Wien“ angesehen werden, der nach den Essays von Gerhard Roth gedreht wurde, die 1993 mit dem gleichen Titel als Buch erschienen sind.
Wien, das ist hier wie dort ein Zentrum des Vergessens und Verdrängens, in dem Filmer wie Autor für ihre Psychopathologien des Alltags fündig wurden – wobei Schütte weitgehend Roths Wegen durch die Stadt folgt. Er beginnt seine Reise in der josephinischen Sammlung anatomischer Wachspräparate, bei den gehäuteten und geöffneten Leibern, deren Aderngeflecht und innere Organe sich in morbider Schönheit zeigen und vor denen der ungeschulte Betrachter nicht weiß, ob er sie als Lustmörder oder als Sektionsgehilfe anschauen soll. Rasch wird deutlich, daß diese verwesungssicheren Modelle als Leitbilder fungieren, die der Reise durch den Körper der Stadt Orientierung geben. Diese Reise führt durch Gefängnis, Asyl und psychiatrische Anstalten, durch Gebeinkammern, Waffensammlungen und Monstrositätenkabinette, durch Tunnel und Katakomben, in denen verdrängte Geschichte eingelagert ist. Die Straßen sind immer noch so, wie sie Karl Kraus vorfand, als er sich über die Sehenswürdigkeiten von Wien Gedanken machte: „Sie sind mit Kultur gepflastert, während die Straßen anderer Städte bereits mit Asphalt gepflastert sind.
Denn hier reicht die Vergangenheit in die Gegenwart hinein, und daraus erklärt sich die bekannte Wiener Unpünktlichkeit. Bahnzeit ist hier einige Minuten hinter der Stadtzeit zurück, aber Stadtzeit einige Jahrzehnte hinter der mitteleuropäischen Zeit. In der Vergangenheit sind wir den anderen Völkern weit voraus.“ Es ist diese Stadtzeit, in die Schüttes Film hineinleuchtet und die Relikte eines noch lebendigen Totenkults ins Bild bringt. Die Menschen, die sich aus dem Dunkel des Stadtkörpers lösen und sich für Momente zeigen, sind Reliquienwärter und lebenslänglich Eingeschlossene. Die meisten von ihnen wirken erschöpft vom ständigen Wechsel über jene fließende Grenze zwischen den normalen und krankhaft benannten Seelenzuständen, von denen Freud meinte, daß wahrscheinlich jeder von uns sie im Laufe eines Tages mehrmals überschreite.
Die, die auf der Seite des Wahns geblieben sind, die Zeichner, Maler und Dichter, die unter der Obhut des Psychiaters Navratil ihre Bilder machten und Texte schrieben, erscheinen als die einzig Glücklichen. Die anderen, die Wechsler, kämpfen: wie Herr Schwarz, Amateurhistoriker, der die Geschichte des Stephansdoms erzählen will, wie sie nicht im Tourismusführer steht. Sie strengen sich an, wie der ordengeschmückte Oberst Krach, Auskunftsoffizier im Heeresgeschichtlichen Museum, der sich mit jeder Erklärung um einen neuen Orden zu bewerben scheint. Sie werden im Gefängnis zu Horchposten, in denen die Stadtgeräusche, die in ihre Zellen dringen, noch die einzigen Freiheitssignale sind; sie verwandeln sich im Dauerrausch in Wesen, die schon auf ihre Autopsie im Sektionssaal warten, und sie sind dazu verdammt, in der Kanalisation, wo für alle Zeiten der „Dritte Mann“, der Todesengel Orson Welles, seine Schatten werfen wird, die Gestade des Fäkalienstroms zu säubern.
Wir sehen sie mit Mitgefühl und: mit Beklemmung, denn sie erscheinen oft nur als Stichwortgeber für die Zitate aus dem Buch von Gerhard Roth, die der Sprecher aus dem Off vorliest. Die Fragen, die ihnen gestellt werden, wirken meist interesselos; denn eigentlich brauchten sie nicht mehr befragt zu werden, weil der Filmer die Antworten eh schon wußte. Vieles, was Roth recherchierte, wird noch mal in verkürzter Form nachgestellt. Und wenn das nicht klappte, wie etwa im Männerheim, wo die Niedergeschlagenen und Säufer allzu laut und wirr waren, dann griff man zu bewährten Mitteln des Dokumentarismus, um sie wieder aufnahmebereit zu stimmen: Dort gab man ihnen beispielsweise eine Sofortbildkamera in die Hände, mit der sie ihre verwüsteten Gesichter aufnahmen. Das hat sie leise gemacht.
Wien, Wien, nur du allein... das ist auch hier der Ort, der, wie Freud schrieb, „keine Atmosphäre hat, in der die Hoffnung, etwas Schweres zu Ende zu bringen, sich erhalten kann und in dem es ein Elend ist, zu leben.“ Schütte zeigt dies Elend, aber es ist ein Elend, aufbereitet fürs Fernsehkulturprogramm. Was von Roth in scharfsinniger Beobachtung aus dem Verschütteten hervorgeholt und zu einer Gegengeschichte verknüpft wurde, das verwandelt er in Attraktionen des Abseitigen, die im Rhythmus des Features vorgeführt werden und die nicht ins Innere dringen, sondern nur im Unten bleiben.
Österreich 1995, 90 Min., Farbe, 35 mm, Kamera: Bernd Meiners, Musik: Gerd Bessler, Sprecher: Walter Schmidinger. Hackesche Höfe Filmtheater, ab 23.1. Moviemento, genaue Termine siehe Cinema-taz
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