: Halblederausgabe mit Volleder
Eine Bildungslegende wird 200: Der erste gesamtdeutsche Brockhaus erscheint in 20. Auflage. Band I handelt von Begriffen wie „antifaschistisch-demokratische Ordnung“ oder dem rechtschreibreformierten „Alkoholgenuss“ ■ Von Peter Walther
Jeder weiß, was ein „Duden“ ist, fast jeder hat schon einmal im „Dehio“ geblättert, aber haben Sie schon mal vom „Löbel“ gehört? Der Namensverwirrung noch nicht genug: Wußten Sie, daß der Schriftsteller Jean Amery eigentlich Hans Mayer hieß, nicht zu verwechseln mit dem Germanisten Hans Mayer, der immer noch so heißt. Kennen Sie den kleinen Unterschied zwischen „Amman“ – der jordanischen Hauptstadt, „Amman, Jost“ – dem Renaissancekünstler, „Ammann“ – einem schweizerischen Gemeindevorsteher und dem Verlag namens „Amann“? Sie wollen es auf keine Rechtschreibprüfung ankommen lassen? Kein Problem, auch dafür gibt es ja den „Löbel“.
Der Leipziger Gelehrte dieses Namens wäre sicherlich zu einigem Ruhm gekommen, wenn sein „Conversationslexikon mit vorzüglicher Rücksicht auf die gegenwärtigen Zeiten“ vor zweihundert Jahren etwas mehr Erfolg gehabt hätte. So aber kam es, wie es kommen mußte: Ein findiger Verleger kaufte das Löbelsche Lexikon für ganze 1.800 Taler und sorgte für dessen Vollendung und Erweiterung. Fortan firmierte das Werk unter dem Namen seines Verlegers, der damit eine Legende des deutschen Bildungsbürgertums begründete: den „Brockhaus“. In diesen Wochen wurde – 200 Jahre nach dem Beginn von Löbels Unternehmen – der erste von 24 geplanten Bänden der 20. Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie ausgeliefert.
Wer geglaubt hat, die Zeit der umfänglichen und teuer ausgestatteten Nachschlagewerke ist vorbei, seit es möglich ist, denselben Wissensumfang multimedial auf nur einer CD-Rom zu speichern, hat einen gänzlich unrationalen Faktor unterschätzt, eine Erwägung fernab von jedem Nützlichkeitsdenken: die Freude am Buch. Welcher Leser, welcher „User“ spiegelte sich nicht viel lieber in der 23karätigen Folie des Kopfgoldschnitts vom „Brockhaus“ als in der kalten Silberscheibe eines Datenträgers? Wer nähme nicht viel lieber einen zwei Kilogramm schweren Band in griffestem Buckramleder zur Hand als eine verschrammte Plastikhülle? Solcher Luxus hat freilich seinen Preis: 208 Mark kostet bei Gesamtabnahme der Einzelband der Halblederausgabe „in so genanntem Vollleder“ (Verlagswerbung in neuer Rechtschreibung!).
Eine Halblederausgabe in Vollleder – was will man mehr? Seit 1993 hat der Verlag F.A. Brockhaus seinen Hauptsitz wieder in Leipzig genommen. Zehn Jahre, nachdem die letzte Auflage des Brockhaus' begonnen wurde, ist die Jubiläumsausgabe zugleich auch die erste gesamtdeutsche Edition der Enzyklopädie nach der Wiedervereinigung. Das hat sich in der Neuaufnahme und Modifizierung von DDR-spezifischen Einträgen niedergeschlagen.
Wer kann heutzutage noch ABI von ABF unterscheiden? Bekommen wir bei „ABI“ neben dem Hinweis, es handle sich hier um eine Abkürzung für „Arbeiter-und Bauern-Inspektion“, noch einen ganzen Rattenschwanz von Informationen, enttäuscht der Eintrag „ABF“ mit der schlichten Auflösung der Abbreviatur und einem Querverweis auf „Arbeiter-und- Bauern-Fakultät“. Nun geht unser Band 1 aber leider nur bis „Apyrexie“. Es bleibt vorderhand also nur die Möglichkeit, im alten „Brockhaus“ nachzuschlagen, oder sich noch ein paar Wochen zu gedulden, bis der Band 2 erscheint.
Kürzel durchgedrehter Politoffiziere
Das ehrgeizige Ziel des Lexikon- Verlags lautet nämlich, bis Ende 1998 sämtliche 24 Bände herauszugeben. Dann läßt sich auch nachschlagen, was es mit den „Aventinianern“ auf sich hat, auf die im Stichwort „Antifaschismus“ verwiesen wird – einer von 120.000 Querverweisen. Schon jetzt aber kann man sich posthum zum Mitwisser der politischen Geheimsprache in der DDR machen, aber Vorsicht, manches klingt unecht! „AdO“ zum Beispiel ist ein seltsames und wohl nur in Seminararbeiten durchgedrehter Politoffiziere gebrauchtes Kürzel für „antifaschistisch-demokratische Ordnung“. Hierbei kann es sich nur um eine am einstigen DDR-Schreibgebrauch um Kilometer vorbeischlitternde Analogiebildung zur westdeutschen „FDGO“ handeln, der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.
Gesamtdeutsches auch beim Stichwort „Alkoholgenuss“ (“ss“ ist keine Schweizer Unsitte, sondern eine faulende Blüte der neuen Rechtschreibung, in der das ganze Werk abgefaßt ist). Gesamtdeutsch ist jedoch nicht nur die Feststellung: „Die Aufnahme alkohol. Getränke in kleinen Mengen wirkt anregend, in größeren berauschend“ (Querverweise auf Alkoholvergiftung und -krankheit), gesamtdeutsch ist vor allem die Biertrinkerstatistik. 139,6 Liter des edlen Gerstensafts rinnen Jahr für Jahr durch die Kehle eines jeden Deutschen, mehr als ein kleines Bier am Tag für jedes Kleinkind und jeden Greis, die deutsche Hausmedizin. Und da rede noch jemand von „Alkoholkrankheit“!
In der Brockhaus-Enzyklopädie sind neben den alphabetischen Stichworteinträgen auch Schlüsselbegriffe mit längeren Artikeln verzeichnet. Einer davon ist dem Vorgang des Alterns gewidmet. Haben Sie gewußt, daß Sie erst 40 Jahre auf diesem trostlosen Erdenrund überstanden haben müssen, bevor Sie für einen der traurigsten Jobs in unserm Land in Frage kommen, nämlich den des Bundespräsidenten? Und wußten Sie, daß „das am schnellsten wachsende Bevölkerungssegment (...) das der über 80jährigen“ ist? Das Segment, wohlgemerkt, nicht die über 80jährigen.
Ja, ja, ich weiß, wie ungerecht das ist – die Stichelei mit der Statistik und die Nörgelei an Nichtigkeiten. Aber was soll man machen bei diesem Brocken Bildung, den über 1.300 Wissenschaftler aus Ost und West zusammengetragen haben. Soll man von der soliden Präsentation, der prächtigen Typographie usw. schwärmen oder doch lieber jene Stelle auf der ersten Leseseite dieses monumentalen Werks ins Licht rücken, jene winzig weiße Stelle am Ende einer Apposition, der ein kleiner Tropfen Druckerschwärze in Gestalt eines Kommas gut zu Gesicht gestanden hätte?
Ich werde mich hüten, zu schnell ist man der eigenen Fehlbarkeit begegnet. Und wer weiß, ob die Verfasser des Vorworts bei der entsprechenden Leerstelle nicht schon die nächste oder übernächste Rechtschreibreform im Sinn hatten, denn, soweit ein Letztes zum Thema „Altern“, die Beständigkeit des verwendeten Papiers beträgt laut Auskunft eines Labors nicht weniger als 400 Jahre.
„Brockhaus. Die Enzyklopädie“. In 24 Bänden, 20. Auflage 1996–98, Einzelband: 228 DM; bei Gesamtabnahme: 208 DM; bei Vorauszahlung bis 31.12. 1997 für alle Bände 4.656 DM (entspricht 194 DM je Band)
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