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Die Frage nach dem vierten Stamm

Ein Vortrag der Historikerin Eva Hahn zur tschechisch-deutschen Malaise im Tschechischen Zentrum  ■ Von Christian Semler

Dafür, daß man zwischen allen Stühlen sitzen und sich dennoch ein schönes Plätzchen erobern kann, bietet die in Prag geborene, in Deutschland und England ausgebildete und jetzt im „Carolinum“ zu München wirkende Historikern Eva Hahn ein überzeugendes Beispiel. Eine Wissenschaftlerin, die nicht nur die anerkannte historische Zeitschrift Bohemia herausgibt, sondern sich lustvoll der Beschmutzung ihrer beiden Nester widmet.

Am Mittwoch abend war sie Gast im Berliner „Tschechischen Zentrum“, stellte Thesen aus ihrem letzten, bislang nur in tschechischer Sprache erschienenen Buch „Das sudetendeutsche Problem, schwieriger Abschied von der Vergangenheit“ vor, unterhielt sich auf dem Podium mit der Historikerin Christiane Brenner und beantwortete Fragen des aus Sudetendeutschen, sonstigen Deutschen und Tschechen gut gemischten Publikums. Überraschendes Ergebnis des Abends: die üblichen Frontenbildungen blieben aus, Tschechen verteidigten Sudetendeutsche und vice versa.

Wer, fragte Frau Hahn, sind eigentlich die Sudetendeutschen? Die (ehemaligen, weil ausgebürgerten) tschechoslowakischen Staatsbürger sudetendeutscher Nationalität? Oder diese Alten und die Gesamtheit aller ihrer Nachkommen, die heute in Bayern den sogenannten vierten Stamm bilden? Und wie verhält sich die Sudetendeutsche Landsmannschaft zu beiden Gruppen? Mit wem soll die Regierung Tschechiens eigentlich dialogisieren, eine Forderung, die vor allem seitens der bayerischen Staaatsregierung erhoben wird?

Eva Hahn kritisierte eine Reihe gerade im Milieu der Linken beliebter Wahrnehmungsschablonen. Die Sudetendeutschen bilden keinen einheitlichen reaktionären Block, nicht einmal die Landsmannschaft tut das. In vieler Hinsicht sind sie aber, trotz ökonomisch sehr erfolgreicher Integration, der deutschen Wirklichkeit fremd geblieben. Sie waren eben keine „Reichsdeutschen“. Auch heute noch fühlen sie sich denen ähnlich, die sie vertrieben: den tschechischen Böhmen.

Die Anerkennung der polnischen Westgrenze war der Preis der deutschen Einigung. Das haben die meisten Deutschen einschließlich der Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten geschluckt. Gerade weil eine „Grenzfrage“ zwischen Tschechien und Deutschland nicht existierte, ist nach Eva Hahns Meinung beider Verhältnis schwieriger. Tief in die Geschichte zurückreichende wechselseitige Vorwürfe und Stereotype wurden wie in der Icebox konserviert. Dafür sorgte auch der Kalte Krieg, der auf beiden Seiten die „sudetendeutsche Frage“ instrumentalisierte. Jetzt, wo das Eis geschmolzen ist, treten die alten Gegensätze, Findlingen gleich, unbearbeitet ans Tageslicht.

Für Eva Hahn ist die Vertreibung eine Katastrophe, allerdings eine, die vermeidbar gewesen wäre. Beide Nationen hätten es noch einmal miteinander versuchen können und müssen. Daß diese Katastrophe dennoch eintrat, schrieb sie einer Situation im Jahr 1945 zu, die rechtsstaatliche Normen im Namen der „volksdemokratischen Revolution“ außer Kraft setzte. Während in den westeuropäischen Staaten die politischen Eliten bemüht waren, den Volkszorn gegen Besatzer und Kollaborateure nach Kräften einzudämmen, schwamm die politische Führung in der CSR förmlich auf der Massenabrechnung, die wesentlich von den kommunistisch beherrschten Revolutionsgarden inszeniert worden war.

Deshalb bildete sich in den Jahrzehnten nach 1945 in der Tschechoslowakei eine Koalition des Schweigens bzw. der Apologie. Deren Hauptbeteiligte: die bürgerlichen Politiker des Exils und die Kommunisten unter Einschluß der Reformkommunisten des Jahres 1968. Letztere wollten nicht Abschied nehmen vom prägenden „revolutionären“ Ereignis ihrer Jugend. Hier versagten sie als „Jäger nach der verlorenen Tat“.

Ob es einen Ausweg aus der wechselseitigen Blockade gibt, wußte auch Eva Hahn nicht zu sagen. Sie plädierte dafür, die jeweils andere Struktur der historischen Wahrnehmung ernst zu nehmen. Und speziell der deutschen Seite empfahl sie etwas weniger Paternalismus im Umgang mit dem kleineren Partner. Das Publikum nahm's zustimmend zur Kenntnis.

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