: Die Helden sind Verlierer
Verfälschender Geschichtsschreibung aus dem Weg gehen und dennoch dem Mythos etwas Positives abgewinnen: Georg Röwekamps Schalke-Buch ■ Von Detlef Kuhlbrodt
Es ist unwahrscheinlich, daß in der Wirklichkeit Sinnhaftes auftritt. Deshalb guckt man Fußball. Da gibt es Anfang, Ende, abschließende Resultate und immer wieder die Möglichkeit des Neuanfangs, was im Leben ja eher selten ist. Außerdem gibt es immer noch ein paar Vereine, die dem tristen Einerlei beliebig austauschbarer, unlustig suchterzeugender Medienwaren widersprechen und deren Spieler vermutlich angewiesen sind, nach unverhofften Siegen darauf zu beharren, daß das Geld völlig unwichtig sei. Es gehe um den Verein. Und die Region. Was das für die vielen Menschen hier bedeutet!
Während andere Vereine, wie etwa Freiburg, sich verzweifelt in der Gegenwart abstrampeln müssen, um nicht in Vergessenheit zu fallen, ist der Traditionsverein da. Er muß nicht mehr um seine Sichtbarkeit kämpfen. Seine Fangemeinde ist groß, seine Siege und Niederlagen sind immer schon aufgehoben in einer Geschichte, die stets aufs neue beschworen wird. Selbst der Abstieg kann Traditionsvereinen wie Schalke 04 nichts anhaben. In seinem Buch „Schalke 04 – Der Mythos lebt“ erzählt Georg Röwekamp die, gelinde gesagt, wechselvolle Geschichte des Ruhrpottklubs. Wie zur Zeit viele Autoren bemüht er sich, sowohl der verfälschend beschönigenden Geschichtsschreibung des Vereins aus dem Weg zu gehen als auch den Fan anzusprechen, als auch dem „Mythos Schalke“ etwas Positives abzugewinnen.
Das ist nicht einfach, zumal der Verein seine größten Erfolge in der Zeit des Nationalsozialismus hatte. Zwischen 1934 und 1942 holte die „beste Vereinsmannschaft aller Zeiten“ teilweise hoch überlegen sechs deutsche Meisterschaften.
Auch wenn eine „direkte Beeinflussung des Schalker Siegeszugs den Nazis nicht nachzuweisen“ ist, wird der Verein aufgrund seines unpolitischen Charakters („Wir kannten nur Fußball und sonst nichts“ – Kuzorra) zum nationalsozialistischen Vorzeigeverein. Die Aufstiegsgeschichte des Malochervereins wird oft mit der der Nazis verglichen. Im „Buch vom deutschen Fußballmeister“, dessen Arbeiteranteil 1944 nur noch bei 50 Prozent liegt, heißt es: „Die Entwicklung von unten herauf, das Leben mit dem Volk [...], das Sich- nicht-entmutigen-Lassen durch Niederlagen und Rückschläge, der fanatische Wille zum Ziel und zum Sieg, das haben die Schalker mit Adolf Hitler gemeinsam.“ 1939 gehören bereits alle Spieler der SA an.
Die Nazizitate, die man dem eher renitenten Ernst Kuzorra und dem angepaßteren Fritz Szepan damals in den Mund legte, mögen zwar erfunden sein, zumindest Szepan hatte jedoch gegen die Vorteile, die sich aus der Nazipolitik für ihn ergaben, nichts einzuwenden. Im November 1938 übernahm der blonde Nationalmannschaftskapitän ein enteignetes jüdisches Kaufhaus am Schalker Markt.
Nach dem Krieg verdrängt man in Schalke wie auch anderswo die Nazizeit. Im Buch zum 50jährigen Bestehen des Vereins findet sich kein einziger Satz über den Nationalsozialismus.
Die sportliche Nachkriegsgeschichte nach der letzten Meisterschaft (1958) ist ein beständiger Wechsel zwischen Euphorie (7:0 gegen Bayern) und Depression, diversen Skandalen, drohendem Lizenzentzug, wundersamen Errettungen, hoffnungsvollen Ausblicken und pathetischen Enttäuschungen.
Die Schalker Geschichte lese sich wie ein klassischer Mythos, schreibt Röwekamp und bemüht sich, Parallelen herauszustellen zwischen dem „Mythos Schalke“ und den Geschichten über Odysseus, Herakles oder Siegfried: Wie die klassischen mythischen Helden kommt der Verein aus niederen Verhältnissen, erkämpft sich gegen den Widerstand eines feindlich gesonnenen Establishments einen Platz an der Sonne, wird vom Volk gefeiert und durch heimtückischen Dolchstoß gemeuchelt. Wie bei den mythischen Helden ist nach dem schimpflichen Tod des Unschuldigen, nach diversen Skandalen oder nach dem Abstieg in die zweite Liga nicht Schluß. Nein, „es erhält sich der Held, selbst der Untergang war ihm nur ein Vorwand, zu sein“ (Rilke). Und „warum sollte nicht wieder von neuem werden, was schon gewesen ist?“ (Friedrich Schlegel: „Rede über die Mythologie“)
Der Schalker Mythos hätte sich nicht dadurch erledigt, daß er von den Nazis instrumentalisiert worden sei, schreibt Röwekamp und bemüht sich, seine gemeinschaftsstiftende Funktion herauszustellen. Mir scheint allerdings, daß die Schalker Geschichte, die Röwekamp unterhaltsam und klug darstellt, spätestens seit den fünfziger Jahren ganz andere, ambivalentere, vielleicht modernere Mythen geprägt hat: Mythen von Verschwendung, Skandal, Verrat, Intrige, Ungeschick, von unverdientem Erfolg, tragischem Fall und verschwendetem Reichtum.
Sie reichen vom Bundesligaskandal bis zu Olaf Thon, der nur in Bayern-Bettwäsche schlief, vom konzeptlosen Präsidenten Eichberg, der den Schiedsrichter Neuner mit einem Jagdgewehr im Wert von 30.000 Mark beschenkte, bis zum Rausschmiß von Jörg Berger.
Halbwegs eindeutige Helden wie „Tanne Fichtel“, der als letzter Schalker Malocher mit 43 sein Abschiedsspiel machte, sind die Ausnahme. Die größten Nachkriegsspieler der Schalker imponieren als schöne Verlierer: Erwin Kremers, der „beste Linksaußen der Welt“ (so der beste Schalker Nachkriegstrainer Ivica Horvath), fand, nachdem er 1974 wegen Schiedsrichterbeleidigung aus der Nationalmannschaft geworfen worden war, nie mehr zur alten Form zurück. Sein Zwillingsbruder Helmut wurde nach tristem Karriereende in der US-Profiliga und glückloser Präsidentschaft aus dem Verein ausgeschlossen, und der geniale Reinhard Libuda konnte nach dem Bundesligaskandal nie mehr Fuß fassen, scheiterte im Tabakgeschäft, das er von Kuzorra und Szepan übernommen hatte, und starb völlig verarmt.
Wer trägt die Mythen weiter in Zeiten der medialen Vergleichgültigung des Fußballs? Georg Röwekamp gibt eine politisch korrekte Antwort: Nicht das Großunternehmen Schalke, nicht die Spieler, die morgen schon woanders sein mögen, sondern der nicht rassistisch korrumpierte Fan hält den Schalker Mythos – wie immer man ihn auch lesen mag, am Leben.
Georg Röwekamp: „FC Schalke 04 – Der Mythos lebt“. Verlag Die Werkstatt, 39,80 DM
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