: Überbevölkerung – ein politischer Kampfbegriff
■ Das neue Buch von Susanne Heim und Ulrike Schaz bechreibt und analysiert die Karriere eines Jahrhundertbegriffs und zeigt, wie Demographen Politik machen
Ein „Amöbenwort“ hat Barbara Duden den Begriff der Überbevölkerung getauft. Susanne Heim und Ulrike Schaz verfolgen in ihrer sorgfältig recherchierten Studie einzelne historische Etappen der Amöbenhaftigkeit dieses Begriffs. Er ist ein politisch gar nützliches Ding, weil sich mit ihm völlig verschiedene Probleme etikettieren und wie mit Knetgummi zukleistern lassen. Die Kategorien, die das „über“ oder „unter“ der Bevölkerung messen, sind ebenso unklar wie der Begriff bieg- und beugsam ist.
Die Genese des Denktopos in unserem Jahrundert sehen die Autorinnen in der Frage des „Bevölkerungsoptimums“, die vor dem Ersten Weltkrieg von Nationalökonomen aufgeworfen wurde. Wo Wirtschaftlichkeit, nämlich „Menschenökonomie“ oder „organisches Volkskapital“, ins Spiel kommt, entsteht der Anspruch, quantitativ und qualitativ zu steuern. Die Frage, ob viele Menschen Gefahr oder Aktivum, Last oder Potential sind, blieb lange einer der roten Fäden in der Debatte, sowohl als es in den fünfziger Jahren in Westeuropa um die Integration der Flüchtlinge ging als auch, wenn es um Entwicklung und Wirtschaftswachstum im Süden geht. Aus dem Blickwinkel ökonomischer Effizienz entstand das Standardargument, daß weniger Kinder mehr Wohlstand bedeuten.
Ob die Agrarkrise der Sowjetunion in den zwanziger Jahren oder die „Judenfrage“ im Nazideutschland der dreißiger Jahre – immer wird der Weg bereitet, um ein politisches Problem einer bevölkerungspolitischen Lösung zu überantworten: so zum Beispiel bei der „Entjudung der Wirtschaft“ oder der „Liquidierung der Kulakenklasse“. Ende der zwanziger Jahre erregte die brutale Umsiedlung und Deportation von „Kulaken“ aus dem Westen in den Osten der Sowjetunion noch Neid bei deutschen Bevölkerungswissenschaftlern: Die sozialistischen Kollegen könnten es „sich leisten, (demographische) Probleme radikaler zu behandeln“. Wenig später propagierten sie das „Endlösungsdenken“.
Seit den fünfziger Jahren verlagert sich die Aufmerksamkeit auf die Bevölkerungen in den Ländern des Südens. Neben das ökonomische Argumentationsmuster trat das ökologische, das seither eine globale Verantwortung begründet. Als Mittel zur Bevölkerungskontrolle traten Verschiebungen und Ausmerzung ungewünschter Bevölkerungsgruppen in den Hintergrund zugunsten einer „Rationalisierung der Fortpflanzung“, nämlich Geburtenkontrolle. In den USA hatte bereits eine großangelegte, von John D. Rockefeller gesteuerte Öffentlichkeitskampagne mit den weidlich bekannten Bildern von der „Bevölkerungsbombe“ ein Problembewußtsein erzeugt und Bevölkerungspolitik als Mittel US-amerikanischer Außenpolitik legitimiert: zur Bekämpfung des Kommunismus und zur Rettung der Demokratie.
Als sowohl die Verabreichung von Verhütungsmitteln als auch Zwangsmethoden in Ländern des Südens demographisch relativ folgenlos blieben, wurde der Interventionsradius hin auf die „Motivationsfaktoren“ erweitert. Damit gerieten – oft durch das Engagement von Feministinnen – die Frauen nicht nur als Uterus, sondern als ganze Personen in den Blick. Bei der letzten Weltbevölkerungskonferenz 1994 in Kairo waren die Frauen nicht Objekt, sondern auch Subjekt der Debatte.
Die Stärke des Buches liegt darin, daß Roß und Reiter benannt werden. Die unheilige Allianz von Bevölkerungswissenschaft und Politik wird entlarvt und entschlüsselt, die traditionellen Denkmuster von wissenschaftlichen Instituten wie zum Beispiel des renommierten Instituts für Weltwirtschaft in Kiel gezeigt. Die Kontinuität von Personen, Karrieren, Ansichten ist beklemmend. So war zum Beispiel der deutsche Osteuropaforscher Otto Schiller in den dreißiger Jahren landwirtschaftlicher Bevollmächtigter der deutschen Botschaft in Moskau. 1941 setzte er als Besatzungsverwalter in der Ukraine eine „Auslese nach dem Leistungsprinzip“ unter den Bauern durch. 1957 war er wieder an der deutschen Botschaft in Moskau und in den sechziger Jahren schließlich Agrarberater des Entwicklungshilfeministeriums. Und Gerhard Mackenroth, Hans Harmsen, Hermann Schubnell – die führenden deutschen Bevölkerungswissenschaftler konnten ihre Karriere nach dem Krieg ohne Einbruch, lediglich mit einer etwas weichgespülteren Diktion erfolgreich fortsetzen. Analogien gibt es bei den Frauen, vor allem bei US- amerikanischen Frauenrechtlerinnen, die nahtlos überwechselten aus dem Lager der Bevölkerungssteuerung von oben zum feministischen Plädoyer für „reproduktive Gesundheit“. Daß mit diesem in Kairo deklarierten Konzept tatsächlich das Durchpeitschen demographischer Ziele ein Ende hat und die Einlösung von Frauenrechten auf Gesundheit, selbstbestimmte Sexualität und Fortpflanzung Priorität findet, diesen Beweis ist die Praxis der Geburtenkontrollpolitik noch schuldig. Skepsis ist gewiß angesagt, ob die alte Bevölkerungspolitik sich nicht lediglich ein feminisiertes Mäntelchen umgehängt hat. Denn immer weniger Stimmen hinterfragen das Diktum von der „Überbevölkerung“ als wissenschaftlich objektivierbar. Um so wichtiger ist das Buch von Heim und Schaz. Christa Wichterich
Susanne Heim/Ulrike Schaz, „Berechnung und Beschwörung. Überbevölkerung – Kritik einer Debatte“, Vlg. Schwarze Risse – Rote Strasse, Berlin, Göttingen 1996, 248 Seiten, 29,80 DM
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