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Beraubt wurden die Juden alle

Über fünfzig Jahre verschwiegen französische Museen, daß zahlreiche Kunstwerke in ihren Depots aus „arisiertem“ jüdischen Besitz stammten. Eine staatliche Kommission soll nun Aufklärung über die geraubten Schätze bringen  ■ Von Dorothea Hahn

„MNR“ ist auf den 1.955 Kunstwerken vermerkt, die der französische Rechnungshof in den vergangenen Monaten im Louvre, im Musée d'Orsay, im Musée national d'Art und in anderen großen Museen des Landes erfaßt hat. Das unauffällige Kürzel steht für „Wiedererlangung, Nationale Museen“ und bedeutet für Eingeweihte, daß die Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen – darunter Werke von Courbet, Monet, Gauguin, Renoir, Sisley und Rodin – aus jüdischem Besitz stammen, daß sie zwischen 1940 und 1944 geraubt wurden und daß sie nach Kriegsende in den Besitz staatlicher französischer Museen gingen. Offiziell war MNR ein Provisorium, das nur so lange währen sollte, bis sich die rechtmäßigen Eigentümer meldeten. Doch viele von ihnen konnten das nicht mehr – sie waren in den Vernichtungslagern ermordet worden. Die Überlebenden des Holocaust und die Erben wußten oft nichts von den geraubten Kunstwerken oder verfügten nicht über die nötigen Beweisstücke, um ihren Anspruch geltend zu machen.

Über ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Regimes von Vichy, das in Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern die „Arisierung der französischen Wirtschaft“ zur staatlichen Politik erhoben hatte, macht sich Frankreich jetzt daran, das Raubgut zu inventarisieren. Ministerpräsident Alain Juppé machte das Vorhaben am vergangenen Wochenende bei einem Empfang des „Rates der jüdischen Institutionen“ (Crif) bekannt: Eine staatliche Kommission soll bis zum Ende dieses Jahres einen ersten Bericht vorlegen. Tatsächlich werden die Arbeiten viel länger dauern: Neben den Kunstwerken geht es um Immobilien, um Möbel und um viele Millionen persönliche Gegenstände, die sich heute im Besitz staatlicher Stellen befinden. „Bei Kriegsbeginn lebten 300.000 Juden in Frankreich. 74.000 wurden deportiert. Aber praktisch alle wurden beraubt“, so Crif-Präsident Henri Hajdenberg.

Die späte Aufarbeitung der Vergangenheit hat viele Gründe. Da ist zum einen die offizielle Geschichtsschreibung, die das Regime von Vichy als Ausnahmesituation in der französischen Geschichte, für das die französische Republik keine Verantwortung zu übernehmen habe. Mit der Judenverfolgung befaßten sich Opfervereinigungen und ein paar isolierte Forscher. Die Spitzen des Staates hingegen behinderten systematisch Ermittlungen und erst recht Prozesse gegen französische Komplizen des Holocaust.

In dieser Verdrängungslogik stand auch der bisherige Umgang der Museen mit den MNR-Kunstwerken. Nach dem Krieg waren sie ihnen mit der Auflage übergeben worden, die rechtmäßigen Besitzer ausfindig zu machen. Doch schon bei der Ausstellung sämtlicher MNR-Werke 1949 in Compiègne, die den Besitzern ein Wiederfinden ermöglichen sollte, war der Elan der Museen nur mäßig. Sie druckten nicht einmal einen Katalog, der langfristig die Sucharbeit erleichtert hätte. Nach 1954 übernahmen sie überhaupt keine Anstrengungen mehr im ursprünglichen Sinn ihrer Aufgabe. Im Gegenteil: Als der Rechnungshof nachfragte, zögerten zahlreiche Museumskonservatoren mit einer Antwort und setzten den Wert und die Bedeutung der MNR-Kunstwerke auf ein Minimum. Das Musée Guimet erklärte sogar, es könne die fraglichen vierzehn Objekte der chinesischen Schule, die ihm 1951 „provisorisch“ übergeben worden waren, nicht mehr identifizieren.

Es dauerte bis zum Amtsende des Sozialisten François Mitterrand (der selbst eine Weile in den Diensten des Vichy-Regimes gearbeitet hat), bis sich das Klima änderte. Der Post-Mitterrandismus begann mit einer Erklärung des nachgeborenen Jacques Chirac im Juli 1995. Am 53. Jahrestag der großen Judenrazzia in Paris gab er als erster französischer Staatschef eine französische Beteiligung und Mitverantwortung für den Holocaust zu. Seither kamen die Prozeßvorbereitungen gegen den einstigen Spitzenbeamten des Vichy- Regimes, den inzwischen 86jährigen Maurice Papon, in Gang. Seither sind auch die Museumskonservatoren und die Archivare, die Tausende von bislang nie studierten Dokumenten über den staatlichen Raub verwalten, aufgeschlossener. Seit vergangenem November gibt es sogar einen Internet- Platz, der ausschließlich zur Auffindung der Erben der MNR-Werke eingerichtet wurde.

Andere Präferenzen gab es bislang auch auf seiten der Opfer. „Zuerst mußten die deutschen Verbrecher der Endlösung gefunden und vor Gericht gestellt werden, dann ihre Komplizen aus Vichy“, erklärt Serge Klarsfeld, Rechtsanwalt und Vorsitzender eines Vereins der Angehörigen von Holocaust-Opfern. „Es war dringender, das Andenken an die Opfer des Nazismus aufrechtzuhalten. Das Geld kam später.“

Auch bei den jetzt eingeleiteten Untersuchungen soll es weniger um pekuniäre Fragen, als um die „Suche nach der historischen Wahrheit“ (Hajdenberg) gehen. Hajdenberg regt an, daß Kunstwerke – sollten sie im Staatsbesitz bleiben – statt des „provisorisch“ gemeinten MNR künftig einen Hinweis tragen sollen, daß sie einer jüdischen Familie gehört haben, die in der Deportation ums Leben kam.

Über den finanziellen Wert der geraubten Güter aus jüdischem Eigentum gibt es bislang keine verläßlichen Zahlen. Wohl aber existiert eine detaillierte Erfassung der Beutestücke. Der französische Historiker David Douvette weiß, daß die Kunstwerke und Kunstgegenstände insgesamt „nicht mehr als 0,3 Prozent“ der zwischen 1940 und 1944 geraubten Objekte ausmachen. „Die jüdischen Kunstsammler in Frankreich waren eine Minderheit“, sagt er, „die angebliche wirtschaftliche Macht von Juden war Teil der antisemitischen Propaganda. Die meisten Ausgeraubten und Deportierten waren kleine Leute, bei denen keine Kunstgegenstände, sondern Alltagsartikel und Werkzeuge zu finden waren.“

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