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Der graue Blick

Die Mauer als Stilleben: Ein Buch über Berlin vor und nach den Ereignissen vom November 89  ■ Von Michael Nungesser

Es ist nicht lange her, da war Berlin die Stadt der „Mauer“. Heute gerät das Symbol der deutschen Teilung mehr und mehr in Vergessenheit. Rasant sich wandelnde Zeiten machen's möglich. Das „antifaschistische Bollwerk“ (O-Ton Ost) wurde gründlichst und fast spurenlos beseitigt, eine Unzahl von Kränen verwandelt die neue Hauptstadt in eine gigantische Baustelle.

Der schwächer werdenden Erinnerung will ein von Harry Hampel in strengem Schwarzweiß gehaltenes Fotobuch entgegentreten, das Einst und Jetzt konfrontiert. Seite für Seite stehen sich gegenüber: links ein Foto der Mauer, rechts eines vom gleichen Ort, aufgenommen vom annähernd gleichen Standpunkt, aber ohne Mauer.

Das ist kein neuer Gedanke, der in Berlin-Büchern gerne durchgespielt, hier aber systematisch angewendet wird. Ergänzt werden die Bildpaare durch ausführliche stadthistorische Erläuterungen von Thomas Friedrich. Daß die Teilung der Stadt durch eine Mauer schon unmittelbar nach dem Krieg als Menetekel hellsichtiger Karikaturisten in den Köpfen spukte, verdeutlicht übrigens eindrucksvoll eine Coverzeichnung von 1946 aus dem Politsatire-Blatt Ulenspiegel. Sie illustriert Friedrichs Einleitung – ebenso wie eine Aufnahme von 1865 (!) von der zum Eintreiben von Steuern und zum Verhindern von Desertionen errichteten Stadtmauer. Noch ein Aha-Erlebnis: Diese Mauer verlief – man glaubt es kaum – ähnlich wie die spätere realsozialistische.

Rund 50 Stadtansichten entlang der „Demarkationslinie“ (O-Ton West) liegen vor, „die ehemals Schnittpunkte zwischen Ost und West waren, an denen aber gegenwärtig die Stadt die Bedingungen ihrer Zukunft produziert“. Ausgangs- und Endpunkt bildet das Brandenburger Tor; ausführlich wird der innerstädtische Mauerabschnitt von dort bis zur Kreuzberger Oberbaumbrücke vorgeführt. Vereinzelt kommen dann Mauerorte in Neukölln und Wedding, Rudow und Zehlendorf, Drewitz/ Dreilinden und Staaken zur Ansicht.

Bezeichnenderweise geht der Blick (mit einer Ausnahme: Brandenburger Tor) immer von West nach Ost – vergleichbar der Sicht beider Autoren. Dennoch ermöglichen die Fotopaare ganz unterschiedliche Lesarten des Vergleichens, je nach Lage des Aufnahmeortes. Beim Brandenburger Tor könnte man fast meinen, die Mauer sei dort ein Bauzaun und sollte Unbefugte am Betreten hindern, wäre da nicht das Schild: „Achtung. Sie verlassen jetzt West-Berlin“.

Anderswo wird das brutale Einschneiden in die gewachsene Stadtstruktur entlang der Bezirks- beziehungsweise Sektorengrenzen deutlich: am Potsdamer Platz etwa, der durch den breiten Todesstreifen sich noch leerer und monströser darbot, oder an der Wilhelmstraße, die einfach mitten im Lauf durchgeschnitten wurde, oder in Kreuzberg am Bethaniendamm, wo die Mauer, wenige Meter von den Hausfassaden entfernt, parallel zu ihnen verlief. An abseits des Zentrums gelegenen Orten dagegen, etwa am Südrand von Buckow, wirkt die Grenze aus Beton auf feldigem Gelände fast harmlos.

„Wo die Mauer war“ läßt auf frappierende Weise den städtebaulichen Wandel ahnen, den Berlin erfährt. Allein deshalb dürften manche Aufnahmen nach dem Fall der Mauer schon wieder historisch sein. Leider läßt die Druckqualität oft zu wünschen übrig, so daß man einige Textangaben wegen Unschärfe der Bilder nicht nachvollziehen kann.

Dem distanzierten grauen Blick entspricht auch eine seltsam emotionslose Darstellung der Dinge. Die Mauer erscheint hier wie ein in dünner Luft eingefrorenes topographisches Kuriosum, das nur der nächsten politischen Großwetterlage gewichen ist. Der Funke der radikalen Veränderung jedoch will nicht überspringen.

„Wo die Mauer war“. Nicolaische Verlagsbuchhandlung 1996, 128 Seiten, 42 DM

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