■ Auf den deutschen Steinkohlezechen standen die Räder weiter still. In Neukirchen-Vluyn am Niederrhein blockierten die Kumpel das Werkstor und die nahe gelegene Autobahn. Aber geordnet und in Abstimmung mit einer solidarischen Polizei.: "Un
Auf den deutschen Steinkohlezechen standen die Räder weiter still. In Neukirchen-Vluyn am Niederrhein blockierten die Kumpel das Werkstor und die nahe gelegene Autobahn. Aber geordnet und in Abstimmung mit einer solidarischen Polizei.
„Und jetzt kriegen wir 'nen Arschtritt“
Um vier Uhr früh hat beim Bergmann Hendryk Dlugosz am Freitag der Wecker geklingelt. Er hat sich zwei Kaffee reingeschüttet, die belegten Brote eingesteckt, die ihm „die Frau“ geschmiert hat und ist zehn Minuten mit dem Fahrrad durch die Dunkelheit zur Zeche Niederberg in Neukirchen- Vluyn gefahren. Wie seit 20 Jahren. Noch konnte er nicht ahnen, daß die Niederberger Kumpel wenig später die Arbeit niederlegen, die nahegelegene Autobahn sperren und damit das Signal für alle anderen Zechen im Ruhrgebiet und im Saarland geben würden, es ihnen gleichzutun.
Um kurz nach fünf, gerade hatte sich der 40jährige Hendryk Dlugosz in der Kaue die weiße Arbeitskleidung angezogen, lief Betriebsrat Harry Prill mit der Flüstertüte durch die Gänge. „Männer, kommt mal zusammen“, hat er gerufen und dann in nüchternem Tonfall von der neuen Situation berichtet: Von derzeit gut neun auf nicht mal mehr vier Milliarden Mark jährlich wolle die Bundesregierung bis zum Jahr 2005 die Kohlebeihilfen senken, 60.000 Arbeitsplätze seien in Gefahr. Von vier Leuten müßten drei gehen. Da war erst mal Totenstille. „Das heißt nichts anderes“, fuhr Harry Prill fort, der als Betriebsrat den Teufel tun wird, zu einer verbotenen Arbeitsniederlegung aufzurufen, „daß das, was wir friedlich gemacht haben, nichts gefruchtet hat.“
Plötzlich schrie Hendryk los. „Die wollen uns verarschen. Das lassen wir uns nicht gefallen. Laßt uns auf die Straße.“ „Jojojo“, riefen darauf die anderen zustimmend, und los ging's. Zuerst vors Tor auf die Straße, den Berufsverkehr stören. Aber nur ein bißchen. Alle paar Minuten haben sie ein paar Autos durchgelassen. „Die müssen ja schließlich zur Arbeit“, sagt Hendryk Dlugosz verständnisvoll. Als es anfing, langweilig zu werden, rief jemand: „Los, zur Autobahn!“ Und ein Trupp von etwa 20 Leuten setzte sich in Bewegung zur A 40. Der wortgewaltige Hendryk Dlugosz ging nicht mit. „Dazu bin ich zu vernünftig“, sagt der kräftige Elektriker.
Hendryk Dlugosz ging lieber mit den anderen zur Mahnwache, die seit dem 4. November auf dem Rasen vor dem Rathaus abgehalten wird, als klar war, daß die Bundesregierung die Subventionen für die Kohle kürzen will. Da haben sie dann die Kreuzung blockiert. Der Nachbar vom Haus an der Ecke brachte Absperrband. Wie jeden Morgen sorgten eine Bäckerei und die Stadtsparkasse kostenlos für Brötchen und Kaffee.
Nachmittags bringt die Awo Suppe. Zum Aufwärmen ist ein weißes Zelt da. Sie halten zusammen in der 27.000-Einwohner- Stadt am Niederrhein, in der allein 2.400 Menschen auf der Zeche beschäftigt sind und die anderen von den Aufträgen der Zeche und dem Geld der Bergleute leben. „Stirbt die Zeche, stirbt die Stadt“, steht auf einem großen Plakat an der Kreuzung. Keiner zweifelt daran.
Die meisten Autofahrer reagieren deshalb gelassen. Steht jemand ratlos vor dem rot-weißen Absperrseil, kommt sofort ein Trupp auf ihn zu. „Sei nicht böse“, ruft Hendryk. „Es geht schließlich um unsere Arbeitsplätze“. „Ja, ja“, erwidert der Autofahrer, „ich habe ja Verständnis. Sag mir nur, wo ich jetzt lang muß.“ Auch mit den Polizisten verstehen sie sich, die hier stets Polizisten heißen und nicht „Bullen“. Freundlich plaudernd steht man zusammen. „Könnt ihr uns sagen, wann ihr die Sperre wieder auflösen wollt?“ fragt ein Polizist höflich. „Morgen früh“, antwortet einer vom Betriebsrat. „Schön“, antwortet der Polizist. „Und wenn ihr wieder sperrt, sagt uns bitte vorher Bescheid, damit wir die Straße sichern können.“
„Wieso sollen wir uns mit den Leuten anlegen?“ fragt Hendryk. „Wir wollen auf friedlichem Wege demonstrieren. Wir sind doch alle Familienväter.“ Alkohol ist zwar nicht verboten, aber verpönt. „Wir wollen schließlich zeigen, daß wir hier nicht zum Spaß stehen.“
„Zeigen, daß wir hier nicht zum Spaß stehen“
Die Rücksicht geht so weit, daß sie ab acht Uhr abends ihren etwa drei mal drei Meter großen bunten Holzhahn nicht mehr krähen lassen. Die evangelische Kirchengemeinde aus dem Ortsteil Rayen hat ihn gestiftet als Symbol für Lüge und Verrat. In Anlehnung daran, daß Jesus zu Petrus sagte: Ehe der Hahn gekräht hat, wirst du mich dreimal verleugnet haben.
Am Abend stehen noch etwa 100 Leute zusammen, meist Kumpel, wenig Frauen, einige Anwohner in Jogginghosen und Schlappen. Der Tonfall bleibt gedämpft. Die Wut vom Vormittag ist vor allem tiefer Sorge gewichen. „In der freien Wirtschaft“, sagt einer, hätten sie keine Chance. „Wir haben unsere Knochen im Bergbau gelassen, und jetzt kriegen wir einen Arschtritt.“
Fast alle haben sie ihre Wehwehchen, Probleme mit Knien und Ellbogen vom Kriechen in den niedrigen Schächten sind die Regel. Auch bei Hendryk Dlugosz haben 20 Jahre Schichtarbeit ihre Spuren hinterlassen. Er darf nicht mehr bei über 28 Grad arbeiten. Und die lukrative 24-Uhr-Schicht kommt für ihn auch nicht mehr in Frage. Die nervliche Belastung ist so groß, „da schreie ich nur die Frau an“. Nicht umsonst, sagen sie, sind unter den Kollegen so viele Ehen geschieden. Vor kurzem ist dem Hendryk Dlugosz unter Tage ein drei Kilo schweres Eisenstück aufs Knie gefallen. Jetzt hat er eine Narbe am Knie und kann nicht mehr lange stehen.
Die Ausbildung der Bergleute ist zwar in der Regel gut, aber, sagt ein Schlosser, was wollen die draußen mit Leuten, die nur mit den dicken 48er Schrauben arbeiten. Und Elektriker wie Hendryk Dlugosz sind draußen „gemeingefährlich“, weil sie das Brennen und Löten verlernt haben, das unter Tage verboten ist. Haben sie Verständnis dafür, daß die Subventionen gekürzt werden sollen? Schließlich wird jeder Bergbau-Arbeitsplatz mit 120.000 Mark jährlich subventioniert. Da kocht die Seele. „Was kriegen denn die Bauern in Bayern, und was ist mit der Stahlindustrie?“ Nur fünf Prozent aller Subventionen gingen in den Bergbau. Und was, bitteschön, sei die Alternative? Der Bäcker, die Marktleute, die Handwerker, die Einzelhändler – sie alle lebten schließlich vom Geld der Bergleute.
Um sechs Uhr morgens geht Hendryk Dlugosz nach Hause. Schon drei Stunden später will er wiederkommen. „Ob's was nützt“, wisse er nicht. „Aber in fünf Jahren möchte ich sagen können: Ich habe wenigstens alles dafür getan.“ Markus Franz, Neukirchen-Vluyn
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