Mein Onkel, mein Vater – und wir

Aus der Bundestagsdebatte zum Streit über die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ am Donnerstag abend wurde ein ungewöhnliches Gespräch im Parlament. Den Anfang machte Otto Schily  ■ Aus Bonn Bettina Gaus

Bei der Rede von Otto Schily schlug die Stimmung um.

Vorher hatte sich bei der Bundestagsdebatte über die Kontroverse im Zusammenhang mit der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ jene Polarisierung der Standpunkte abgezeichnet, die wohl fast alle erwartet hatten. Gerald Häfner von den Bündnisgrünen hatte der CSU wegen ihrer heftigen Kritik an der Ausstellung vorgeworfen, mit „dem ultrarechten Sumpf“ zu paktieren. Alfred Dregger von der CDU hatte erklärt, wer eine pauschale Verurteilung der Wehrmacht versuche, der wolle „Deutschland bis ins Mark“ treffen. Begleitet waren die Reden von erregten Zwischenrufen der jeweils anderen Seite und kräftigem Beifall der eigenen. Alles wie gehabt.

Dann kämpfte Otto Schily vorne am Rednerpult plötzlich mit den Tränen. Bis dahin hatte er nichts gesagt, was diese Gefühlsaufwallung hätte erwarten lassen. Es wurde still im Parlament. Endlos lange, so schien es, rang der SPD-Abgeordnete um Fassung. Er blickte vor sich auf seine Papiere, schob sie hin und her, setzte zum Spechen an, brach wieder ab. „Entschuldigung.“ Dann schwieg er weiter. Würde Schily seine Rede überhaupt fortsetzen können?

Er tat es, und er sprach über seine Familie. Ein Onkel hatte aus Verzweiflung über die Verbrechen des Hitlerregimes den Tod im Luftkrieg gesucht. Der Vater, ein „erklärter Gegner“ des Nationalsozialismus, hatte es lange als Demütigung empfunden, wegen der Mitgliedschaft in einer anthroposophischen Gemeinschaft nicht zum Wehrdienst eingezogen worden zu sein. Ein Bruder, der nicht der Hitlerjugend hatte beitreten wollen, meldete sich nach gescheiterter Flucht ins Ausland freiwillig an die Front und wurde schwer verletzt. Ein Verwandter von Schilys Ehefrau hat als Partisan gekämpft. „Er hat sich als einziger für die richtige Sache eingesetzt.“

Otto Schily hatte einen Nerv getroffen. Joschka Fischer, Fraktionssprecher der Bündnisgrünen, stand auf, ging zu Schilys Platz und gab dem Parteifreund von einst die Hand. Ohne demonstratives Pathos, fast wie im Vorübergehen.

Es geschah, was ganz selten geschieht im Bundestag: Die Abgeordneten hörten einander zu. Lange. Es wurden keine Akten abgezeichnet, es wurden keine Zeitungen gelesen, es wurde nicht telefoniert. Bis zum Schluß der Debatte kurz vor sieben Uhr abends war das Plenum fast voll besetzt.

Es blieb ruhig, als Otto Graf Lambsdorff von der FDP sagte, er habe sich oft gefragt, wie er selbst sich verhalten hätte, wären ihm als Soldaten der Wehrmacht Verbrechen befohlen worden: „Eine Antwort auf diese Frage habe ich nie gewagt.“ Die Abgeordneten schwiegen auch, als der Sozialdemokrat Freimut Duve von einem Gespräch der letzten Woche erzählte, das er mit einer noch lebenden Zeugin der Deportation seiner jüdischen Großmutter geführt hatte. Er berichtete auch von zwei Brüdern, die in der Wehrmacht gedient hatten: „Sie hat dieser Krieg bis zu ihrem Tod nicht verlassen.“

Christa Nickels von den Grünen meldete sich mit einer persönlichen Intervention zu Wort. Auch ihr 1991 verstorbener Vater war bei der Wehrmacht gewesen. Die Mutter hatte ihr erzählt, daß er nach Kriegsende jede Nacht im Schlaf geschrien habe, von Feuer und Kindern träumte. Grauenhaft sei es es gewesen. Einmal sah die Tochter ein Foto, auf dem der Vater eine SS-Uniform trug. Nach Einzelheiten hat sie ihn nie zu fragen gewagt. „Das Beste wäre, wenn man ein Klima erzeugen könnte, wo Familien am Tisch sitzen und miteinander reden.“ Vielleicht könne da eine Ausstellung wie die über die Verbrechen der Wehrmacht helfen.

Christa Nickels sprach länger, als bei einer persönlichen Intervention von der Geschäftsordnung vorgesehen ist. Niemand hat sie unterbrochen. Einmal sagte sie nicht „Vater“, sondern „Papa“. Es war weder kitschig noch infantil. Die Abgeordnete argumentierte mit sich selbst. Sie habe sich überlegt, ob sie das alles hier überhaupt sagen solle. Sicher werde es Leute geben, die sie später fragten, wie sie das habe tun könen. „Ich empfinde es nicht als Nestbeschmutzung, weil jeder, der mich kennt, weiß, wie sehr ich meinen Vater liebe.“

Alfred Dregger war wegen seiner scharfen Rede von Duve und Schily persönlich angegriffen worden. Beiden war es gelungen, dabei gleichzeitig ihre grundsätzliche Achtung vor dem CDU-Politiker auszudrücken. Dregger ging auf die Vorwürfe noch während der Debatte ein: Er werde die Kritik an seiner Person prüfen, sagte er, direkt an Duve gewandt. Er wolle deutlich machen, daß er sie nicht einfach zurückweise. „Ich habe etwas lauter gesprochen, als ich das gerne tue, damit ich überhaupt noch durchdringe.“ Ihn schmerze es, wenn alle Landser, von denen viele neben ihm gefallen seien, pauschal verurteilt würden.

Die gegensätzlichen Standpunkte und unterschiedlichen historischen Bewertungen blieben während der Debatte bestehen. Aber für eine kurze Stunde nahmen sich Abgeordnete aller Parteien als Frauen und Männer verschiedener Generationen mit eigenen Schicksalen und eigenen Familiengeschichten zur Kenntnis. Die nationalsozialistische Vergangenheit wurde, jenseits aller Sonntagsreden, für eine kleine Weile tatsächlich als ein kollektives nationales Erbe begriffen. Freimut Duve: „Uns alle wird der Krieg bis zu unserem Tod nicht verlassen.“

Das Niveau ließ sich nicht halten. Die meisten Redner, die sich nicht mit kurzen Interventionen in freier Rede zu Wort gemeldet, sondern längere Texte erarbeitet hatten, waren auf das ungewohnte Klima nicht vorbereitet. Sie verharrten im Üblichen – anders als einige ihrer Zuhörer. Als Walter Kolbow von der SPD meinte, es müsse möglich sein, die Ausstellung auch in Bonn zu zeigen, da applaudierte ausgerechnet Alfred Dregger.

Andere Abgeordnete hörten der vorbereiteten Rede gar nicht mehr zu. Spürbar wurden weder Ablehnung noch Zustimmung, sondern ganz einfach Desinteresse. Parteipolitik war kein Thema zu dieser Stunde. Ein Geräuschteppich von leise und halblaut geführten Gesprächen begleitete den Debattenbeitrag. Viele Parlamentarier standen auf und gingen zu Kollegen an anderen Plätzen. Hans-Ulrich Klose, der als Vizepräsident des Bundestages die Sitzung leitete, bat darum, doch auch weiterhin den Rednern Aufmerksamkeit zu schenken. Vergebens. Zu groß war die Anspannung gewesen, die sich nun Luft verschaffte.

Von Peter Gauweiler und anderen Unionspolitikern, die mit herber Polemik die Ausstellung in den letzten Wochen zur Sympathiewerbung am rechten Rand des politischen Spektrums mißbraucht hatten, war während der Debatte kaum die Rede. Es wäre vielleicht auch zuviel der Ehre gewesen.

Als einziger CSU-Politiker meldete sich als letzter Finanzminister Theo Waigel zu Wort. Er habe das eigentlich nicht vorgehabt, sagte er, aber der Verlauf der Debatte habe ihn aufgewühlt. Dann erzählte auch er von seiner Kindheit. Dort, wo er herkomme, habe ein Offizier der Wehrmacht viele hundert Behinderte vor der SS gerettet. „Für mich ist er ein Held.“ Theo Waigel war bei Kriegsende sechs Jahre alt. Ist es unfair, ihm zu unterstellen, daß er die Stimmung der ernsten, sehr persönlich gefärbten Debatte kühl berechnend für eigene politische Zwecke zu nutzen versucht hat?

Eigentlich hätte der Bundestag nach der Aussprache über konkurrierende Anträge verschiedener Parteien abstimmen sollen. Kurzfristig einigten sich die Fraktionen, die Anträge statt dessen an Ausschüsse zu überweisen. Auf eine routinierte Abstimmung zu diesem Thema entlang der Parteigrenzen hatte zu diesem Zeitpunkt wohl kaum noch jemand Lust.