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Volkskultur aus zweiter Hand

Damit das Leben von einst in Erinnerung bleibt, pflegen Freilichtmuseen Geschichtsbewußtsein. Die allseits beliebten Präsentationen schwanken zwischen Romantik und Aufklärung  ■ Von Markus Keller

Das Motto der deutschen Freilichtmuseen ist so simpel wie anspruchsvoll: „Geschichte zum Anfassen“ heißt es in den Modelldörfern von Kiel, Tittling, Kommern oder Klingenthal. Und so bekommt man an über dreißig Orten nicht nur gezeigt, was eine Harke ist – man kann sie auch in Aktion erleben: Heumachen und Flachsbrechen, Weben, Spinnen, Buttern, Töpfern stehen dort auf dem Programm – und das Publikum kann nicht genug davon kriegen. Millionen strömen jährlich in eines der zentralen Museen der Bundesländer oder in eine der kaum noch zu übersehenden lokalen und regionalen Einrichtungen.

Allein der Hessenpark bei Neu- Anspach im Taunus bringt es auf mehr als 300.000 Besucher im Jahr. Der Erfolg ist so groß, daß er den Veranstaltern fast schon unheimlich wird. „Glauben Sie bloß nicht, daß das eine ,gute alte Zeit‘ war“, schärft Lieselotte Frank im Hessenpark den Teilnehmern ihrer Führung ein. Statt auf Agrarromantik setzte man hier von Anfang an lieber auf kritische Sozialgeschichte. So regen im Museumsshop des Hessenparks giftgrüne Arbeitsblätter ganz unsentimental zum „Erarbeiten, Erkennen, Begründen, Beurteilen“ an. Wer so etwas freiwillig liest, ist fraglich, legen doch viele Besucher mehr Wert auf die gute alte Zeit in Form von Kutschfahrten, Kirschtorte und Hausmacherpreßkopf.

Drei Ziele hatte der Internationale Museumsrat ICOM 1957 für die Freilichtmuseen festgelegt: Bewahrung, Erziehung, Identifizierung. „Alle Gebäude, die sie hier sehen, wären ohne uns auf der Müllkippe gelandet“, hatte Frau Frank am Anfang ihrer Führung betont. Wird die Absicht erst einmal bekannt, ein Gebäude ins Museum zu transportieren, ruft das nicht selten besorgte Bürger auf den Plan. In Volpertshausen gab es vor über fünfzehn Jahren sogar eine Bürgerinitiative, die die sprichwörtliche Kirche lieber im Dorf lassen wollte.

Ein aktuelleres Beispiel ist die Synagoge aus Nentershausen bei Hersfeld. Jahrelang als Schweinestall mißbraucht und ziemlich heruntergekommen, wurde sie schließlich abgebaut und im Hessenpark wiedererrichtet, wo man sie seit diesem Herbst besichtigen kann. Lokale Heimatforscher und Volkskundler waren gegen den Abtransport, der Bürgermeister fand's bedauerlich – doch von allein wären sie vielleicht gar nicht auf die Idee gekommen, eine Restaurierung an Ort und Stelle zu fordern. „Der Denkmalschutz hat bei uns Priorität“, erklärt der wissenschaftliche Leiter des Hessenparks, Dr. Peter Janisch. Beharrungsvermögen hat ihm und seinen Kollegen in den letzten Jahren so manches architektonische Kleinod beschert.

Wenn Fachleute unter sich streiten, geht's mitunter temperamentvoll zu. „Die Mißhandlung der bedeutenden Zeugnisse hessischer Kultur im Hessenpark muß sofort ein Ende haben!“ forderte vor fünf Jahren Ulrich Großmann, der heute das Nürnberger Germanische Nationalmuseum leitet. Für Großmann drohte im Taunus „ein fragwürdiges Disneyland“, berichtete damals die FAZ. Neben dem angeblichen Kommerz galt die Attacke zwei importierten Windmühlen. Außerdem fehlten bei manchen Häusern die Türschwellen, nachdem man sie im Hessenpark wiederaufgebaut hatte. Dafür hatten die ins Obergeschoß führenden Treppen Geländer, die die Friedberger Bauaufsicht jubeln ließen, nicht jedoch den Volkskundler.

Ursprünglich stammt die Idee, Geschichte in Freilichtmuseen begehbar zu machen, aus Skandinavien. Sie wurde von der deutschen Volksbildungs- und Heimatkundebewegung der Jahrhundertwende begeistert aufgegriffen. Deren Motive waren durchaus demokratisch: Endlich sollte das, was die kleinen Leute, die Bauern und die Arbeiter hervorgebracht hatten, gleichberechtigt neben den Kunstschätzen der Fürsten und der Bürger stehen. In Deutschland war es Rudolf Virchow, der berühmte Reformmediziner und Liberale, der das Volkskundemuseum in Berlin mitgründete. Welcher Anstrengung es bedurft haben muß, das wachsende Heimatinteresse auf Ziele „...zur nationalen Erziehung unseres Volkes...“ einzuschwören, läßt sich in den Protokollen der Tagung „Die Museen als Volksbildungsstätten“ nachlesen, die 1903 in Mannheim stattfand.

Als das erste deutsche Museumsdorf des heutigen Typs 1936 im niedersächsischen Cloppenburg eröffnet wurde, war die selbstbewußte Brauchtumspflege durch die Nazis vereinnahmt, und der Gauleiter durfte vom „Werk für Deutschland“ faseln. Ansichten vom früheren Leben gab es allerdings schon früher, wenn auch in kleinerer Ausführung. Das älteste Freilichtmuseum ist knapp hundert Jahre alt und steht in Husum.

Läßt man die politischen Motive – ob nationalsozialistisch oder demokratisch – beiseite, erscheinen die Freilichtmuseen in erster Linie als Antwort auf die Industrialisierung. „Wer aus dem Nordwesten oder den östlichen Provinzen Deutschlands zum ersten Mal in das Rhein-Main-Gebiet kommt, dem wird nicht so sehr das Wachstum der Städte, sondern vielmehr die Verstädterung der Dörfer auffallen.

„Kein Dorf ist heute mehr rein bäuerlich.“ So beschrieb schon 1961 die Siedlungsgeographin Anneliese Krenzlin die Folgen des Strukturwandels. Und so ist es kein Zufall, daß der Hessenpark 1974 gegründet wurde, als der Verlust ländlicher Kultur immer schmerzlicher zu spüren war. Um diese Zeit wuchsen Freilichtmuseen wie Pilze aus dem Boden. „Damit die Vergangenheit eine Zukunft hat“, kommentierte damals ein Landrat das Gründungsfieber.

„Zwei, drei Bauern“ gebe es hier noch, erzählt ein freundlicher Neu-Anspacher, der wie die meisten Bewohner in Frankfurt sein Brot verdient. „Das Ländliche ist eigentlich schon weg“, sagt er, „aber das neue ist noch nicht da.“ Neu-Anspach selbst ist nur zwei Jahre älter als der Hessenpark: Die Gemeindereform schuf den Ort 1972 aus vier Dörfern, darunter Anspach, und machte ihn zu einem von zwei Siedlungsschwerpunkten des Bundeslandes, so daß bis heute sechstausend Neubürger den neuntausend Eingesessenen benachbart wurden. Am Hessenpark schätzt der Mann vor allem die Musikveranstaltungen. Daß Freilichtmuseen kulturelle Highlights bieten, macht sie auch für Einheimische attraktiv.

„Im Vordergrund steht für die Besucher erst mal das Interesse daran, wie man früher gelebt hat“, so Dr. Klaus Freckmann, Leiter des zentralen Freilichtmuseums in Bad Sobernheim. Von seinem Büro unter dem Dach des „Wolfersweiler Hauses von 1810“ aus leitet er das rheinland-pfälzische Pendant zum Hessenpark. Mit rund zwanzig Gebäuden und fünfzigtausend Besuchern im Jahr ist das Geschichtskonstrukt allerdings etwas kleiner und beschaulicher. Im Gegensatz zu anderen Freilichtdörfern wirken hier Häuser, Scheunen und Kapellen so, als hätten sie schon immer hier gestanden. Die Spuren der Verpflanzung wurden durch kluges Arrangieren der einzelnen Gebäude verwischt, und dem Besucher fällt es nicht schwer zu glauben, daß es früher genauso aussah wie heute.

Noch ziemlich kaputt von der Disco letzte Nacht sind die jungen Leute, die durch das Museumsdorf spazieren. Sie haben Besuch aus Tatabànya, das liegt in Ungarn: „Wir wollten denen zeigen, was typisch ist für die Gegend.“ Zeigen, was typisch ist für die Gegend, für die Heimat – nicht das schlechteste aller Motive, wenn es um den völkerverständigenden Dialog geht.

Aber was ist eigentlich typisch? Die Geographen wissen mittlerweile nicht einmal mehr, was typisch ist für den „ländlichen Raum“, denn von „Land“ wagen sie schon gar nicht mehr zu sprechen. Wo die Prägung durch Land- und Forstwirtschaft wegfällt, bleibt als Definition übrig: „...das Ländliche ist ein Raum mit niedriger Zentralität der Orte, aber höherer Dichte der zwischenmenschlichen Bindungen.“

Zurück zum Hessenpark. Bevor die Führung sich ihrem Ende nähert, weist Lieselotte Frank eindringlich auf die Trachtenausstellung im Friedensberger Wohn- Stall-Haus hin, ein Projekt der Marburger Uni. Dort, am Institut für Europäische Ethnologie, ist man besonders kritisch im Umgang mit heimischer Folklore. Die Tracht wird als ein hierarchisches Zeichen präsentiert, in der sich die feinen Unterschiede zwischen Arm und Reich spiegeln.

„Volkskultur aus zweiter Hand“, nennt der Marburger Ethnologe Dr. Andreas Wimmer dagegen die Trachtenaufzüge bei Hochzeiten und Veranstaltungen. „Im Freilichtmuseum wird ein Ganzes dargestellt, das die Illusion erweckt, das sei früher tatsächlich so gewesen.“ Wimmer fordert nicht, die Inszenierung der Folklore abzuschaffen, nur dürfe sie nicht mit der Wirklichkeit verwechselt werden. „Es ist authentisch. Aber authentisch für heute.“

Öffnungszeiten und Anfahrt:

Freilichtmuseum Hessenpark,

61267 Neu-Anspach,

Tel.: 06081/58860.

Geöffnet vom 1. März bis 30. Oktober, Di.–So. 9–18 Uhr.

Freilichtmuseum Sobernheim,

Nachtigallental, 55560 Bad Sobernheim, Tel.: 06751/3840.

Geöffnet von April bis Oktober,

Di.–So. 9–17 Uhr.

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