Weinen ist modern

■ Was heißt hier Larmoyanz: In Rita Kuczynskis "Staccato" wird der Übergang vom Realsozialistischen zur Demokratie als höchste Stufe der Entfremdung erlebt

Der Lieblingsvorwurf westdeutscher Intellektueller an Literatur, die nach 1989 von in der DDR sozialisierten Autoren geschrieben wurde und wird, lautet Larmoyanz. „Larmoyant“ bedeutet – Duden-„Fremdwörterbuch“ – „sentimental-weinerlich, mit allzuviel Gefühl und Selbstmitleid“. Der Begriff ist so klar definiert wie sein Gebrauch apologetisch. Jenseits der Elbe darf man sich fragen, ob die Artikulation eines Verlustes generell larmoyant ist oder ob es nur gewisse Formen sind wie das Beklagen und Beweinen. In der Antike galt das Beklagen nicht als larmoyant, sondern als Gebot von Sitte und Moral; in einigen ost- und südeuropäischen Ländern ist das noch heute so. Antike heißt Kultur, Osteuropa hingegen Entwicklungsgebiet. Die west- und mitteleuropäische – und auch die amerikanische – Zeitrechnung nach Margarete Mitscherlich kennt andere Wertungen: Weinen ist modern, Trauern verboten. Die DDR hat sich davongemacht. Ist Phantomschmerz statthaft? Die Larmoyanz-Vorwürfe westlicher Kritiker enthüllen nichts als ihre enttäuschten Hoffnungen auf Dankbarkeit und vollkommene Anpassung ehemaliger DDR-Bürger.

Die Vorrede gilt dem neuen Buch von Rita Kuczynski. So schnell, wie die Vorwürfe hagelten, konnte es kaum gelesen werden. Rita Kuczynski trägt einen berühmten Namen. Die studierte Philosophin, die einst Pianistin werden wollte, beschreibt das Leben einer ostdeutschen Wissenschaftlerin nach der Wende in der gesamtdeutschen Gesellschaft, die sie „Moderne“ nennt – eine universelle Gesellschaft. Die Frau, vielleicht 45 oder 50, lebt allein mit ihrer Katze und einer schwatzhaften Pflegerin. An die Katze hängt die Frau ihr Leben: Sollte die Katze sterben, will sie sich töten – ein Vorhaben, das seltener ausgeführt als nicht ausgeführt wird. Ihre Angst um die Katze ist die Angst um ihr eigenes Leben. Immer ist es schwierig, wie Roderick Chisholm sagt, „erste Person“ zu sein oder, wie Rita Kuczynski es formuliert: „die Variation des einziges Liedes, mit dem ich zur Welt gekommen bin“ zu spielen – sich selbst. Das Leben nach dem Mauerfall ist nicht besser oder schlechter als früher.

Das Problem einer Frau beim Wechsel von einer politischen Zeitzone in die andere wird von Kuczynski nicht larmoyant dargestellt, sondern stellt sich – die Praxis beweist es – schwierig dar: „Nachdem jeglicher Raum überwunden worden war, wurde die Frage nach dem Wohin sinnlos ... Ist aller Raum überwunden, kann auch Ortswechsel nicht mehr stattfinden.“

Befragt nach Zeit und Zukunft, spuckt der Computer von Rita Kuczynskis namenloser Repräsentantin die Stichworte „Zeitschlinge, Zeitbruch, Zeitwende, Zeitende, Zeitschub, Zeitschleuse“ aus – und „Zukunft als Risiko der Überlebensgesellschaft“. Nicht daß die Unheldin vor der Wende besser zurechtgekommen wäre. Schon lange in neurologischer Behandlung, hat sie die Fragilität ihrer Persönlichkeit durch einen Beruf aufgefangen, der ihrem Zwang zum Denkenmüssen und Ordnen entspricht – sie studierte einst Philosophie, wie die Autorin, und schreibt manchmal ein Buch, auch wie die Autorin. Eigentlich unwichtig, denn das Autobiographische ist real existierende Variante, nicht Sonderfall. Jetzt, „in der Moderne“, scheint Kuczynskis Frau sich vorerst nichts auszustehen. Die Großmutter hat ihr ein Mietshaus vermacht, die Einnahmen reichen für ein gemütliches Leben. Larmoyanz? Die Ich-Erzählerin klagt nicht, nie, sie läßt das Leben vielmehr geschehen – ein Umstand, der schwerer zu ertragen ist, als es jede Klage wäre.

Mitunter wird man belehrt, daß Literaturkritik das Schwerste überhaupt sei, doch Lesen ist weitaus schwerer, erfordert es doch das Übersetzen von Konstrukten in einen unvergleichlich feineren Maßstab, als ihn Methoden- oder Genretheorien anbieten: Was sagt einem ein Buch über das eigene Leben? Wichtiger: Warum liest man es genau so, und ist es tatsächlich so? Kuczynskis Stil ist abstrakt und vollkommen mathematisch im deduzierenden logischen Umgang mit Begriffen, daher auch absurd und ironisch. „Staccato“ – der Titel ist auch Programm – erzählt aus der Perspektive der Ich-Erzählerin. Sie ist eine angespannte Frau – sensibel wäre das falsche Wort –, nach innen äußerst störanfällig, intelligent, jeden Mißklang höchst irritiert verortend. Zu DDR-Zeiten ging sie täglich zur Arbeit in ein Institut und blieb doch unangepaßt. Jetzt scheint „die Moderne“ dem in Langsamkeit geübten Hirn ohne Pause Leben, Farben und Geräusche einzuhämmern. Wenn Rita Kuczynskis Unheldin die Spuren ihres entschwundenen Mannes, eines waschechten Ost-Revolutionärs Marxscher Prägung, bis ins Internet verfolgt, transzendiert sie ihre eigene drohende Entpersönlichung. Computer und ihre Folgen, Diskurse und ihre Folgenlosigkeit. Dazu Abfragespiele unter der Intelligenzija, die hierarchisch von West nach Ost ablaufen – „ob ich ihrem Bildungsstand auch standzuhalten vermochte“. Paranoid? Die Unheldin ist nicht gerade verrückt, wenn auch nahe dran.

„Der Wahnsinn von Frauen ist“, so schrieb Sybille Duda in „WahnsinnsFrauen“, „weniger ein psychiatrisches oder individuelles als vielmehr ein gesellschaftliches Problem“; der Wahnsinn der Männer dürfte es nicht weniger sein. Wahnsinn und seine Vorstufen können alles sein: Metapher für soziale und politische Mechanismen, aber auch Mittel, mit denen die Macht etwas Unliebsames oder einfach nur Unverständliches kanalisiert und entmachtet. „Staccato“ verdoppelt die Metaphorik des Wahns und erzählt in einem Nebenstrang den Fall des Psychiaters Juan – er behandelt die Heldin –, der zwei Jahre nach der Wende selbst als Patient in eine Klinik zieht, als er die Leiden seiner Patienten an der Moderne nicht mehr anzuhören vermag und der Banken und Anträge müde ist. Nein, Rita Kuczynskis Buch ist keineswegs ein „Fall für die Psychiatrie“ (Berliner Zeitung) und auch keiner für „Sensibelchen“ (Tagesspiegel), die – so der Vorwurf – empörenderweise ehrwürdige literarische Motive für ihr komisches Buch ausbeuten. Nicht nur bei Gottfried Benn gibt es verrückte Ärzte.

Literarische Motive neigen dazu, über Epochen von ihren Gestaltern, den Schriftstellern, wiederholt zu werden. Sie sind damit nahezu ewig, selbst wenn es ihre Gestalter nicht sein sollten. Wer je einen Blick in Elisabeth Frenzels Studien über Stoffe und Motive der Weltliteratur geworfen hat, weiß das seit dem Grundkurs Germanistik. Interessant ist allenfalls, was mit einem Motiv angefangen wird. Die Klinik, schon immer ein verkleinertes und zugespitztes Abbild der Gesellschaft, wird in „Staccato“ zum Ort, an dem Doktor Juan seine Praxis heimlich, aber perfekter als je zuvor weiterführt. Patienten mit Zahlenticks und Ordnungsneurosen organisieren Termine und Sprechzeiten, wie keine Krankenschwester es könnte. Auch die nicht hospitalisierte Unheldin und ihre Freunde simulieren die Gesellschaft perfekter, als die Gesellschaft tatsächlich funktioniert, wenn sie Ämter und Förderstellen mit perfekten Anträgen beschäftigen. Indem sie spielend Rollen wechseln und Gesellschaft spielen, genügen Kuczynskis Unhelden Habermas' Definition des reifen Menschen. Ein Wissen – dessen ist der Leser am Ende gewiß – hat der Osten dem Westen voraus: „Es bleibt nie, wie es ist“ – im großen Rahmen. Anke Westphal

Rita Kuczynski: „Staccato“. Frankfurter Verlagsanstalt, 184 Seiten, geb., 29,80 DM