"Am Dilemma hat sich nichts geändert"

■ Peter Glotz, ehemaliger SPD-Bundesgeschäftsführer und Rektor der Universität Erfurt, empfiehlt seiner Partei, mit der Kandidatenkür zu warten. Der Zeitpunkt für eine rot-grüne Wahlkampfoption sei derz

taz: Die jüngsten Umfragen sprechen eindeutig für Gerhard Schröder – 62 Prozent der Bevölkerung halten ihn für den geeigneten Spitzenkandidaten. Müßte sich die SPD da nicht bald entscheiden? Oder will sie sich durch die Verzögerung in der Kandidatenfrage verschleißen – wie einst 1994?

Peter Glotz: Es ist eine völlig normale Situation, daß unterschiedliche Leute gegeneinander kandidieren. Für den tüchtigen und populären niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder sprechen sicherlich sehr viele Argumente. Ich warne aber davor, Umfrageergebnisse wörtlich zu nehmen. Ich habe erlebt, welch ungeheuren Vorsprung Johannes Rau als SPD-Spitzenkandidat 1985 hatte. Trotzdem hat Kohl die Wahl damals gewonnen. Man darf einen Effekt nicht vergessen: Schröder bindet derzeit sehr viele CDU-Anhänger, die in ihm noch nicht den SPD-Spitzenkandidaten sehen. In dem Moment aber, wo er es werden sollte, könnten viele wieder zur CDU umschwenken.

Sie sprachen das Beispiel Rau an. Damals hat sich die SPD sehr früh auf ihren Spitzenmann verständigt und ist gescheitert. Soll die SPD nun, wie es die Parteispitze will, bis zum Frühjahr 1998 warten?

Am Scheitern von Rau war ich selbst nicht ganz unschuldig. 1985 haben Wolfgang Clement und ich Rau auf seiner Urlaubsinsel Spiekeroog zu einer frühen Kandidatur überredet. Das war damals falsch.

Sie raten der SPD, bis zum Frühjahr 1998 zu warten?

Das hängt zum einen vom inneren Zusammenhalt des Präsidiums ab, zum anderen von der Frage, wie viele Samstagsinterviews noch gegeben werden. In den letzten Tagen haben sich DGB-Vorständler und einzelne SPD-Abgeordnete zu Wort gemeldet. Wenn solche Äußerungen nicht abzustellen sind, dann muß in der Tat über eine frühere Nominierung nachgedacht werden.

Soll die SPD mit der klaren Alternative Rot-Grün in den Wahlkampf gehen?

Ich halte das für möglich. Eine Entscheidung für Rot-Grün wäre in der derzeitigen Situation noch verfrüht. Es hat sich am strategischen Dilemma der SPD ja nichts geändert: ein großer Teil ihrer Wähler begrüßt Rot-Grün, ein noch größerer Teil allerdings ist für die Große Koalition. Das spaltet die SPD. Die Gefahr ist groß, daß Wähler zur einen oder anderen Seite abspringen. Man sollte also prüfen, ob nicht andere Polarisierungsthemen gefunden werden als das leidige Koalitionsthema.

Ist Kohls Kandidatur also eher hinderlich für die SPD?

Ich halte seine Kandidatur für einen Glücksfall. Ihn persönlich kann man für die meisten Probleme verantwortlich machen, die in 14 Jahren Regierungszeit entstanden sind. Mit einem Kandidaten Wolfgang Schäuble hingegen würde es so nicht gehen. Zumal er sicherlich schon im Vorfeld des Wahlkampfes sehr viel mehr Bewegung ausgelöst hätte, gerade in Sachfragen, die nur mit der SPD zu lösen sind. Es ist damit zu rechnen, daß die CDU wieder einmal einen sogenannten antikommunistischen Wahlkampf führen wird, indem sie das Gespenst einer von der PDS geduldeten rot-grünen Regierung an die Wand malt. Die Aufgabe der SPD wird es sein, den politischen Rohstoff, der auf der Straße liegt, aufzugreifen und daraus Polarisierungsthemen zu machen. Das ist 1994 mißglückt. Und müßte jetzt gelingen. Oskar Lafontaine ist im übrigen ein Spezialist im Aufgreifen solchen Rohstoffes und der Zuspitzung von Themen.

Ein Thema scheint sich ja förmlich aufzudrängen – die Arbeitslosigkeit.

Nicht nur die Arbeitslosigkeit, auch die zunehmende soziale Ungerechtigkeit, die Frage Hochschul- und Bildungspolitik, einer Innovationsoffensive, also der Neugründung technologieorientierter Unternehmen. Daneben könnten außenpolitische Fragen eine zentrale Rolle spielen. Auf diesem Feld läßt die Bundesregierung ja derzeit die Entkernung der beiden großen Organisationen, der Europäischen Union und der Nato, zu. Waigels Behauptung, die EU-Erweiterung sei umsonst zu haben, ist abwegig. Auch die Nato- Ost-Erweiterung wird uns Milliarden kosten. Leider hat die SPD zu diesem Komplex noch kein Wort verloren. Es wäre nicht schlecht, wenn sich die Sozialdemokraten darauf besännen, daß sie zwischen 1966 und 1987 die Partei der Außenpolitik war. Interview: Severin Weiland