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Erstarrt zu ewiger Gegenwart

Heute vor zehn Jahren nahm sich der italienische Schriftsteller und Chemiker Primo Levi das Leben. Sein Tod war ein später Auschwitz-Tod  ■ Von Ludwig Harig

27. Januar 1945: Tags zuvor war der ungarische KZ-Häftling Sómogyi in Auschwitz gestorben. „Morgengrauen. Auf dem Fußboden das schandbare Durcheinander verdorrter Glieder, das Ding Sómogyi“, beschreibt der Italiener Primo Levi, Mithäftling, Mitleidender und 42 Jahre später Mitsterbender des Ungarn, diese Situation in einem seiner zahlreichen Bücher über Auschwitz: „Die Russen kamen, als Charles und ich Sómogyi ein kurzes Stück wegtrugen. Er war sehr leicht. Wir kippten die Bahre in den grauen Schnee. Charles nahm die Mütze ab. Mir tat es leid, daß ich keine hatte.“ Im tiefsten Elend ein letzter Rest menschlichen Empfindens.

Die italienische Schriftstellerin Natalia Ginzburg hält fest, daß Primo Levis Erinnerungen an sein Jahr in Auschwitz beglaubigtes Zeugnis ablegen von dem unbeugsamen Willen, inmitten der totalen Verwüstung des Menschlichen „das Denken wach- und die Solidarität zu den Schicksalsgenossen aufrechtzuerhalten“. Doch was das Ertragbare übersteigt und folglich nicht mehr erzählt werden kann, ist das Ausmaß des von den Nazi- Schergen bewußt erzeugten Grauens. Die Kraft des Gedächtnisses reicht nicht aus, sich lebenslang die bestialischen Bedingungen zu vergegenwärtigen, die geschaffen wurden, diese menschlichen Fähigkeiten des Nachdenkens und Mitleidens zu zermürben, zu zerbrechen.

Primo Levis Selbstmord am 11.April 1987 in Turin war ein später Auschwitz-Tod. Levi hat es nicht ausgehalten, nach einem Jahr Konzentrationslager 42 Jahre lang mit dem Kopf immer noch „in einer Welt der Toten und der Larven“ leben zu müssen im Bewußtsein des Dahinschwindens letzter Spuren von Zivilisation. „Mensch ist, wer tötet, Mensch ist, wer Unrecht zufügt oder leidet“, schreibt er in seinem autobiographischen Bericht „Ist das ein Mensch?“. Und fährt fort: „Kein Mensch ist, wer jede Zurückhaltung verloren hat und sein Bett mit einem Leichnam teilt. Und wer darauf gewartet hat, bis sein Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen weiter entfernt als der roheste Pygmäe und der grausamste Sadist.“

Womöglich hat Primo Levi sich selbst getötet, weil diese Erkenntnis von der Beschaffenheit der menschlichen Natur für ihn auf die Dauer unerträglich geworden war und weil er nicht hat vergessen können, was geschehen war, ihm diese Erkenntnis zu verschaffen.

Am 31. Juli 1919 in Turin geboren, besuchte Primo Levi ein Gymnasium italienischer Prägung zur Zeit der faschistischen Machtausübung. Was der Duce Mussolini auf politischem, repräsentierte der Philosoph Gentile auf geistigem Gebiet: Beide schwangen sich als Diktatoren der Anschauung, Denken sei Handeln, Handeln sei Denken, zu der illusionistischen These dialektischer Wechselwirkung von Geist und Materie, Theorie und Praxis auf. Was in der Theorie der Irrtum, sei in der Praxis das Übel, kursierte es landauf, landab. So entstand ein politischer Aktivismus, befruchtet und genährt von einem philosophischen Aktualismus, der den vehementen Widerstand intellektueller Kreise hervorrief, zu denen sich Primo Levi zählte. 1944, während seines Studiums der Chemie, wurde er als Jude und Mitglied der Resistenza verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Dort arbeitete er bis zur Befreiung des Lagers durch die Rote Armee unter barbarischen Bedingungen in den chemischen Laboratorien des Doktor Pannwitz. Nach schier endloser Odyssee kehrte Levi nach Italien zurück und arbeitete, bevor er sich der freiberuflichen Schriftstellerei zuwandte, bis 1977 in der chemischen Industrie.

Levi schrieb autobiographische Bücher, Romane, Erzählungen, Reportagen, die in deutscher Übersetzung bei Hanser, Wagenbach und im Deutschen Taschenbuchverlag erschienen sind. Ich selbst kenne kein Buch von ihm, in dem er sich erlaubt hätte, das Berichten oder das Erzählen über Auschwitz auszusparen. Unermüdlich, ja von leidenschaftlichster Besessenheit angetrieben, besetzt er sein Thema mit monomanischer Ausschließlichkeit. 25 Jahre lang überspannt er zwanghaft seinen ihm verbliebenen Energieaufwand, den letzten Blutstropfen aus der Wunde Auschwitz zu pressen. Das Unvermögen des Vergessens, gepaart mit der Übermacht des Erinnerns, bilden den Motor seines Schaffens.

Was Primo Levi schließlich zur Verzweiflung gebracht hat, ist das Wissen um den menschlichen Makel, sein charakteristisches Kennzeichen, sein Kainsmal, ist die Einsicht in den „Fehler“ seiner anthropologischen Struktur: Die Anstrengungen menschlicher Vernunft halten nicht Schritt mit den Errungenschaften seines Verstandes, das Bewußtwerden der Folgen bleibt hinter dem Ausnutzen seiner Möglichkeiten zurück. „Der Geist zähmt die Materie, nicht wahr? Hatte man mir dies nicht auf dem Gymnasium eingehämmert, dessen Geist vom Faschismus und den Lehren Gentiles geprägt war? Ich stürzte mich mit dem gleichen Mut in die Arbeit, mit dem wir vor nicht allzu langer Zeit eine Felswand erstürmt hatten; der Gegner war immer noch derselbe, das Nicht-Ich, der ,Krumme‘, die Hyle: die dumme Materie, feindselig- träge wie die menschliche Dummheit und wie diese stark in ihrem passiven Stumpfsinn. Unser Beruf besteht darin, diese endlose Schlacht zu führen und zu gewinnen: verdickter Lack widersetzt sich deinem Willen viel hartnäckiger und störrischer als ein Löwe in seinem wahnwitzigen Ungestüm.“

Diese Passage aus Levis autobiographischem Roman „Das periodische System“ kann als eine erzählte Paraphrase auf Nietzsches Einsicht gelten, jeder Fortschritt liege im Fortschritt des Bewußtwerdens, jeder Rückschritt im Unbewußtwerden, das ein Verfallensein an die Begierden und Sinne, eine Vertierung sei. Levi ordnet die Bestandteile, Merkmale, Wesenszüge seiner Lebensgeschichte wie im periodischen System der Elemente die chemischen Eigenschaften in ihrer numerisch wachsenden Wiederkehr des Immergleichen. Diese nicht „verbesserungsfähige“ Erscheinungsform des Menschen duldet in Primo Levis Augen nur noch ein zögerliches Erzählen: „Unser Held ist also seit Hunderten von Millionen Jahren an drei Sauerstoffatome und ein Kalziumatom gebunden – in einem Kalkfelsen: Er hat bereits eine lange kosmische Geschichte hinter sich, die wir aber unberücksichtigt lassen wollen... Zu ihm paßt bis zu diesem Augenblick nur die Gegenwart, die Zeit der Beschreibung, und nicht eine der Vergangenheitsformen, welche Zeiten der Erzählung sind: Er ist erstarrt zu einer ewigen Gegenwart.“

Primo Levi wiederholt sein Lebensthema auch in den Geschichten der Kindheit und Jugend, in den Romanen und Erzählungen, in denen die leidvollen Begebenheiten von Auschwitz nur scheinbar ausgeklammert bleiben. In seinem soeben im Hanser Verlag erschienenen Band mit Erzählungen „Das Maß der Schönheit“ geht es zwar „um Geschichten von einer Zukunft, die Schauplatz beunruhigender Experimente ist und in der wir die Zauberlehrlinge sind, die immer weniger die Kräfte beherrschen, die sie entfesselt haben“, doch in unausweichlicher Konsequenz stellt Levi auch hier die Verbindung zu Auschwitz her: „Zwischen dem Lager und diesen Fiktionen gibt es eine Kontinuität, eine Verbindungsbrücke: Für mich war das Lager der schlimmste aller ,Fehler‘, aller Verzerrungen, das bedrohlichste der Ungeheuer, die der Schlaf der Vernunft gebiert.“

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