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Ein Land erschrickt, doch das Schweigekartell funktioniert noch

■ Die Empörung über die Skandale des öffentlichen Lebens in Belgien ist etwas abgekühlt. Die Regierung spielt auf Zeit

Nabela Benaissa, die Schwester der ermordeten Lubna, verfolgte den Bericht des Untersuchungsausschusses gestern im Parlament von der Besuchertribüne aus: „Das muß Konsequenzen haben, der Bericht darf nicht in der Schublade verschwinden.“ Das Mißtrauen hat Gründe. Zuviel ist in den letzten Jahren in Belgien vertuscht und verschleiert worden, nicht nur in der Affäre um den Kinderschänder Dutroux. Nabela Benaissa, ein 18jähriges Mädchen mit Kopftuch, gehört mittlerweile zu den bekanntesten Menschen in Belgien. Weil ihre Eltern, eine Einwandererfamilie aus Marokko, kaum französisch sprechen, hat Nabela die öffentlichen Auftritte übernommen. Vor Hunderttausenden klagte sie im letzten Oktober beim Weißen Marsch durch die Hauptstadt die Unmenschlichkeit der belgischen Justiz an.

Der Untersuchungsbericht gibt ihr recht. Wie Nabela fordern auch die Familien der anderen verschwundenen Kinder, daß die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Einige verlangen sogar einen permanenten Untersuchungsausschuß, der die Versäumnisse von Politik, Justiz und Polizei aufdecken soll. Der Dutroux-Ausschuß könne nur der Anfang sein. Zwar werden zum erstenmal Namen genannt, hohe Polizei- und Justizbeamte, die ihre Pflichten grob verletzt haben. Doch für die meisten Belgier steht längst fest, daß die eigentlichen Verantwortlichen in der Politik zu suchen sind. Die früheren und jetzigen Innen- und Justizminister stehen am Pranger, sie haben die Aufsicht über ihre Behörden sträflich vernachlässigt. Noch mehr nagt der Verdacht, daß Politiker direkt in die Affäre um die mißbrauchten und ermordeten Kinder verwickelt sein sollen.

Die belgische Regierung spielt auf Zeit. Er werde die nötigen Veränderungen veranlassen, verspricht Premier Jean-Luc Dehaene, doch erst müsse er den Untersuchungsbericht studieren. In den neun Monaten, seit die Mädchen in Dutroux' Keller gefunden wurden, ist die öffentliche Empörung merklich abgekühlt. Von Normalität aber ist Belgien noch weit entfernt.

Denn das Entsetzen über die Behörden, die dem Treiben von Dutroux jahrelang fast tatenlos zusahen, hat die traditionelle Gleichgültigkeit gegenüber Politik und Verwaltung aufgebrochen. Plötzlich erinnerten sich viele, was sonst noch alles im Sand verlaufen ist. Unter dem Druck der Öffentlichkeit richtete das Parlament Untersuchungsausschüsse für Affären ein, die bis zu 18 Jahre zurückliegen: die Killer von Brabant, die 1979 mit offensichtlich rechtsradikalem Hintergrund 29 Menschen erschossen; der Mord an dem Sozialistenchef André Cools und andere mysteriöse Todesfälle im Umfeld von Parteispendenaffären. Und überall wurde deutlich, daß polizeiliche Ermittlungen absichtlich behindert wurden, daß hochrangige Persönlichkeiten Interessen und Finger im Spiel hatten.

Doch trotz aller Indizien: Kein Untersuchungsausschuß hat bisher Roß und Reiter genannt, allenfalls kleine Fische aus der mittleren Polizeiebene wurden bloßgestellt. Das Schweigekartell funktioniert, in den Ausschüssen belauern sich die Parteien gegenseitig. Zur Entlastung lieferte die Brüsseler Polizei im letzten November den Vizepremier Elio Di Rupo als politischen Drahtzieher der Kinderschänderaffäre. Linker Einwanderersohn, populär und auch noch schwul, war Di Rupo rechten Polizeikräften schon lange ein Dorn im Auge. Als die Vorwürfe in sich zusammenfielen, klopften sich die Medien an die Brust. Man werde künftig vorsichtiger sein, nur keine Hexenjagd.

Auch das ist Belgien. Der Erwartungsdruck der Öffentlichkeit an die Aufklärer hat seitdem nachgelassen. Von den zahlreichen Kinderpornos, die bei Dutroux gefunden wurden und die angeblich Rückschlüsse auf Mittäter zuließen, hat man nie wieder etwas gehört. Bei Umfragen glaubt eine große Mehrheit, daß auch die Dutroux-Affäre nie vollständig aufgeklärt werden wird.

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