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„Es ist immer weggesehen worden“

■ Interview mit Gudrun Ortmann, Pädagogin beim Frauen-Notruf, über das Gewaltverbrechen Vergewaltigung

taz: Anfang März wurde in der S-Bahn Richtung Bergedorf am hellichten Tag eine junge Frau vergewaltigt. Seit die Tat vor zehn Tagen bekannt wurde, beschäftigt die Medien hauptsächlich, daß das Verbrechen quasi vor Zeugen begangen wurde. Niemand hat der 17jährigen Schülerin geholfen. Warum?

Gudrun Ortmann: Wenn man „Vergewaltigung“schreit, interessiert das die Leute weniger, als wenn man zum Beispiel „Feuer“ruft. Geht es um eine Frau, geht es anscheinend niemanden etwas an.

Wieso ist das gerade bei Vergewaltigungen so?

Zum einen wird die Schuld der Frau immer mitgedacht. „Der wird schon seinen Grund haben“oder „Die Frau hat wohl provoziert“schwingen häufig mit. Außerdem hat es mit Peinlichkeit zu tun. Die Leute fassen Vergewaltigungen unter die Kategorie Sexualität, und alles, was damit zusammenhängt, ist peinlich. Eine Vergewaltigung hat aber nichts mit Sexualität zu tun, sondern ist ein Gewaltverbrechen.

Worum geht es Männern bei einer Vergewaltigung?

Männer wollen dabei Macht über die Frau gewinnen. Das sieht man am konkreten Fall: Der Täter konnte es sich leisten, mitten am hellichten Tag die Frau zu vergewaltigen.

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Bei Vergewaltigungen ist immer schon weggeschaut worden. Das hat nichts mit einem Werteverfall in dieser Zeit zu tun.

Seit dem Vorfall in der S-Bahn wird Frauen wieder mal verstärkt zu Selbstverteidigungskursen geraten. Außerdem werden Rufe laut nach mehr Polizei. Rufen Sie mit?

Statt Sheriffs zu fordern, sollte man die vorhandenen Beratungsstellen unterstützen. Die aktuelle Diskussion zielt allein auf Gewalt in der Öffentlichkeit ab. Aber wie- viele Frauen in diesem Moment von ihrem Mann oder Nachbarn vergewaltigt werden, interessiert niemanden. Auch die meisten Selbstverteidigungskurse setzen bei der Fremdvergewaltigung im Park an. Die Realität ist aber, daß eine Vergewaltigung 70 Prozent der Frauen in der Beziehung passiert.

Raten Sie Frauen zur Gegenwehr?

Wir brauchen den Frauen nicht zu raten, sich zu wehren. Jede tut das auf ihre Art in einer lebensgefährlichen Situation. Frauen, die eine Vergewaltigung überstanden haben, sind immer Überlebende. Und wenn man sagt, die Frau hat nicht genug geschrien oder sich gewehrt, schreibt man ihr die Schuld zu.

Wo setzt die Arbeit des Notrufs an?

In erster Linie beraten wir Frauen. Daneben versuchen wir aufzuklären, indem wir Öffentlichkeitsarbeit machen und Fortbildung für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren anbieten.

Was heißt Aufklärung?

Wir wollen vermitteln, daß Vergewaltigung kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem ist. Die wenigsten Männer müssen mit rechtlichen Konsequenzen rechnen.

Fragen: Elke Spanner

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