: Kein Obdach nirgends
■ Gesichter der Großstadt: Otto Schickling, Chef der Obdachlosenzeitung "motz", war Stadt- und Betriebsrat, Alkoholiker, wohnungslos. Jetzt will er wieder in die Politik
Otto Schickling hat sein Schicksal herausgefordert – und ist gestrauchelt. Der 53jährige war Betriebsrat bei BASF, saß für die SPD im Stadtrat, führte mit seiner Frau und den drei Kindern in einer Kleinstadt im Ruhrpott ein ganz normales Leben. Traf der engagierte Gewerkschafter bei einem Einkaufsbummel auf Obdachlose, blaffte er sie an, daß sie gefälligst arbeiten sollen.
Daß ihn selbst eines Tages dieses Schicksal ereilen könnte, wäre ihm in seiner Eigentumswohnung nicht im Traum eingefallen. Doch als der überzeugte Sozi 1987, einen Tag vor dem 1. Mai, erfuhr, daß das BASF-Werk, in dem er 27 Jahre zuvor als Chemiearbeiter angefangen hatte, geschlossen wird, brach für ihn die Welt zusammen. Statt den angebotenen Wechsel nach Ludwigshafen anzunehmen, kapitulierte der in Tarifkämpfen erprobte Gewerkschafter. Schicklings Enttäuschung über die Gewerkschaft war so groß, daß er seinen Kummer über die eigene Arbeits- und Sinnlosigkeit im Alkohol ertränkte. „Vorher hab' ich schon getrunken“, erinnert er sich, „doch dann hab ich nur noch gesoffen.“ Schickling machte 35.000 Mark Schulden und versuchte, in zwielichtigen Etablissements Trost zu finden.
Als seine Frau eine Vermißtenanzeige aufgab, lebte Schickling längst auf der Straße. Sein hochprozentiger Selbstbetrug kostete ihn auch das Dach über dem Kopf. Aus Angst, seiner Frau reinen Wein einzuschenken, haute er nach Essen ab. „Ich hatte einfach Angst vor der eigenen Courage“, sagt er heute. „Diesen Fehler kann ich nicht wiedergutmachen.“
Das Leben auf der Straße ruinierte zudem seine Gesundheit. Heute ist der übergewichtige Schickling zu neunzig Prozent schwerbehindert und Frührentner. Hoher Blutdruck und Herzprobleme machen ihm zu schaffen. Nachdem Schickling in Essen monatelang im Krankenhaus gelegen hatte, kam er vor zwei Jahren nach Berlin.
Hier ist Schickling der Shooting- Star der Obdachlosenszene: Er arbeitet als Vorsitzender von „motz und Co“, Herausgeber der gleichnamigen Obdachlosenzeitung und Projektleiter der Notübernachtungsstelle in Mitte. Überregionale Tageszeitungen widmen ihm große Geschichten, Rita Süssmuth lud ihn im vergangenen Jahr nach Bonn ein, Ilona Christen kürzlich zu ihrem Nachmittags-Talk ins Fernsehen.
Doch Schickling ist noch lange nicht am Ende seiner Fahnenstange angekommen. Nachdem das Verwaltungsgericht die Fünfprozenthürde kippte, will er nun als Einzelkandidat in die Bezirksverordnetenversammlung Mitte einziehen. „Weil Obdachlose im Abseits stehen und sich kein Mensch um sie kümmert“, begründet Schickling die geplante Rückkehr in die Politik.
Ein gewagtes Unternehmen. Otto Schickling hat den Bruch in seinem Leben noch nicht ganz verkraftet. Obwohl er seit über einem Jahr eine eigene Wohnung hat, verbringt er die meiste Zeit bei seiner Ersatzfamilie in der Notübernachtung. „Ich bin allein nicht wohnfähig“, sagt er. In den eigenen vier Wänden würde er nur traurigen Gedanken nachhängen. Deshalb fordert er neben Wohnungen für Obdachlose in erster Linie Betreuung. „Wir müssen uns um die Menschen kümmern“, sagt er.
Weil sich Schickling für alles zuständig fühlt, wachsen ihm manchmal die vielen Aufgaben über den Kopf. Ereilt ihn ein „Tief“, läßt er alles stehen und liegen und geht irgendwo einen Kaffee trinken und ein Stück Kuchen essen. „Ich bin ein Süßer“, sagt er und streicht sich über seinen Bauch. Was ihm die Kraft gibt, weiterzumachen und nicht wieder das Handtuch zu werfen? „Die Verantwortung für den Verein und die Leute“, sagt er. „Ja“, pflichtet ihm Herbert, ein vom Alkohol gezeichneter Bewohner der Notübernachtung bei, „der Otto hat hier eine harte Aufgabe. Deshalb trinkt er nicht mehr.“ Mit traurigen Augen blickt Schickling ihn an. Herbert ist kürzlich rückfällig geworden. „Auch ich bin noch gefährdet“, sagt Schickling mit leiser Stimme. Doch ein Rückfall sei ausgeschlossen, ist sich der Obdachlosenfunktionär sicher. „Ich bin fest geworden.“
Otto Schickling weiß zwar um seine schwachen Punkte, doch als wolle er diese mit Ignoranz bekämpfen, bürdet er sich eine Aufgabe nach der nächsten auf. Weil er weiß, daß er nichts zu verlieren hat. „Ich bin ein Kämpfer“, sagt er. Auch wenn sein Kampf mitunter etwas ziellos erscheint. So könne er sich derzeit noch nicht zu seinem Wahlprogramm äußern, weil er erst die eigenen Probleme in den Griff kriegen müsse und noch nicht genug von der Berliner Politik wisse.
Selbstüberschätzung hat ihm in der Vergangenheit manch einer übelgenommen. In Essen, wo er Anfang 1994 eine Obdachloseninitiative gründete, ist man nicht gut auf Otto Schickling zu sprechen. Wie ein „Fraktionschef“ habe er alles an sich gerissen. Auch unkorrekte Finanzführung wird ihm vorgeworfen. Als Schickling nach einigen Monaten schwer krank ins Krankenhaus kam – zuviel Alkohol, Kaffee und Zigaretten –, brach die Initiative zusammen. Schickling habe sich übernommen, heißt es. Auch in Berlin ist Schickling umstritten. So wird ihm von der Obdachlosenzeitung Straßenfeger „fehlende Transparenz“ und mangelnde Kooperation vorgeworfen.
Vorwürfe, die Schickling nicht aus der Ruhe bringen. Das seien klassische Streitereien unter Obdachlosenprojekten. Daß hin und wieder das eine oder andere verkaufte Exemplar der Zeitung nicht ganz korrekt abgerechnet werde, lasse sich kaum vermeiden. Das gehöre dazu. Barbara Bollwahn
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