■ Türkei: Militärs taktieren die Islamisten ins Abseits
: Verspielter historischer Kompromiß

Nach den Wahlen 1995 hatte die islamistische Bewegung die historische Chance, sich in die politisch- sozialen Realitäten der Türkei einzubinden. Gleichzeitig bestand damals durchaus die Chance, einen gesellschaftlichem Kompromiß zu realisieren. Aber dann wurde ein Tabu gebrochen. Der Islamist Erbakan, der knapp über zwanzig Prozent der Stimmen erhalten hatte, wurde Ministerpräsident einer Koalitionsregierung. Zehn Monate nach seinem Amtsantritt ist die Chance des historischen Kompromisses vertan. Politiker der Wohlfahrtspartei drohen offen mit „Blutvergießen“ und mit „algerischen Verhältnissen“, falls ihre politischen Zielvorstellungen nicht Realität würden. Die Provokation eines Militärputsches scheint Teil der Strategie auf dem Weg zur Macht zu sein. Erst müsse Blut fließen, damit die Demokratie komme, erklärt der islamistische Abgeordnete Halil Ibrahim Celik und vergleicht die Armeespitze mit Männern, die gegen den Wind urinieren.

Die selbsternannten Kämpfer des heiligen Krieges vergessen, daß nicht nur die Generäle mit ihrem Waffenarsenal gegen sie stehen, sondern auch die schweigende Mehrheit der Bürger. Die vermummten Frauen auf der sonntäglichen Kundgebung in Istanbul waren nun ganz nach dem Geschmack der Parteiführung. Bei der Mehrheit der Türken jagten die Bilder Angst und Schrecken ein. Aber die putscherfahrenen Generäle sind mittlerweile gewiefte Taktiker. Ohne zu putschen, lassen sie die Wohlfahrtspartei auflaufen. Skurril, aber wahr: In Stellungnahmen des Generalstabes heißt es, daß „demokratische Massenverbände“ den „religiösen Reaktionären“ die gehörige Antwort verpassen werden.

Die Militärs wissen, daß die Koalitionsregierung nicht mehr lange über eine parlamentarische Mehrheit verfügen wird. Denn Çiller kann ihre Abgeordneten nicht mehr lange auf den Katastrophenkurs einschwören. Eine Koalition unter Ausschluß der Wohlfahrtspartei oder Neuwahlen wären das Ergebnis. Mit beiden Lösungen können die Militärs leben. Auch wenn die Islamisten bei Neuwahlen um einige Prozentpunkte zulegen sollten. Doch das Genick der Politikerin Çiller würde gebrochen. Keiner ihrer Wähler verzeiht ihr, daß sie die bürgerliche Koalition platzen ließ, dann mit den Islamisten paktierte, um so Korruptionsverfahren zu entgehen. Das politische Ende von Çiller ist auch das vorläufige Ende der religiösen Phantasmen Erbakans. Ömer Erzeren