: Türkische Islamisten erklären dem Militär den Krieg
■ 300.000 demonstrieren in Istanbul gegen den Nationalen Sicherheitsrat. Säkulare Oppositionelle fürchten, die Islamisten schaffen das Klima für einen Militärputsch
Istanbul (taz) – Nach der größten islamistischen Kundgebung in der Geschichte der Türkischen Republik haben sich die Fronten zwischen dem Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan und dem Militär verhärtet. Der türkische Generalstab erstattet Strafanzeigen gegen Politiker aus Erbakans islamistischer Wohlfahrtspartei und bringt aggressiv formulierte Presseerklärungen in Umlauf.
Die Kundgebung auf dem Istanbuler Sultan-Ahmet-Platz, zu der die „Wohlfahrtspartei“ und islamistische Verbände am Sonntag mobilisiert hatten, war eine Kampfansage gegen einen Beschluß des Nationalen Sicherheitsrates. Auf Drängen der Militärs hatte dieser die Verlängerung der Grundschulpflicht in staatlichen Schulen von fünf auf acht Jahre verlangt. Der Schritt richtet sich gegen den Einfluß der religiösen Schulen, die Schüler ab dem fünften Schuljahr aufnehmen. Erbakan hatte vor zwei Monaten die „Empfehlung“ des Nationalen Sicherheitsrates an die Regierung zwar mit unterzeichnet, mobilisierte aber gleichzeitig seine Partei, um die Realisierung des Beschlusses zu verhindern.
Die türkischen Islamisten spielen mit dem Feuer
Die liberale Tageszeitung Yeni Yüzyil machte gestern die Drohung eines Generals zur Schlagzeile: „Diese Regierung verliert ihre Legitimität, falls sie die Beschlüsse des Nationalen Sicherheitsrates nicht durchsetzt“. „Das Spiel der Wohlfahrtspartei mit dem Feuer“ titelte die linksliberale Zeitung Radikal.
Auf der Kundgebung unter dem Motto „Rühr meine Schule nicht an“ war das Militär offen zur Zielscheibe erklärt worden. „Die Hände, die nach dem Koran greifen, werden zerschmettert werden“, skandierten die 300.000 Demonstranten. Istanbuls islamistischer Bürgermeister rief unter Applaus: „Mit der Kraft des Volkes werden wir sie niederwalzen.“ Mehrfach griffen Redner den Nationalen Sicherheitsrat und das Militär an. Trotz Bemühungen des Organisationskomitees, extreme Kräfte auszuschließen, wirkte die Kundgebung wie eine Kriegserklärung an das politische Regime, auf dessen Ausrichtung die Militärs entscheidenden Einfluß haben. „Es lebe die Scharia!“ rief eine Gruppe, die mit der grünen Fahne des Islam gekommen war.
Die Kundgebung bildete auch das Kräfteverhältnis in der Regierungskoalition ab. Nur einen Tag zuvor hatte die Vizeministerpräsidentin und Außenministerin Tansu Çiller zu einer Kundgebung auf demselben Platz aufgerufen. Trotz wochenlanger Vorbereitungen und kräftiger Finanzspritzen waren nur knapp zehntausend Menschen erschienen.
Neuwahlen wären Tansu Çillers politischer Tod
Çiller, die mit einem westlichen Image Wahlkampf betrieb und die „Fundamentalisten“ als „Gefahr für die Republik“ brandmarkte, koalierte mit dem Islamisten Erbakan, um einer Anklage vor dem Verfassungsgericht wegen Korruption zu entgehen. Die mehrheitlich säkular eingestellte Basis von Çillers Partei des Rechten Weges hat ihr die Koalition mit den Islamisten nicht verziehen. Neuwahlen würden die Partei in die Bedeutungslosigkeit stoßen.
„Das Memorandum von Sultan Ahmet“ schlagzeilte die islamistische Tageszeitung Akit und forderte Neuwahlen, falls religiöse Schulen geschlossen würden. Dies käme dem politischen Tod Çillers gleich.
Die Opposition und die säkularen Medien beschuldigen die Regierung, das Klima für einen Militärputsch zu schaffen. Die Antwort der Regierung waren mehrere Strafanzeigen gegen bekannte Kolumnisten. Die Journalisten wollten einen „Putsch provozieren“ argumentierte der islamistische Justizminister Sevket Kazan.
Doch auch die Islamisten setzen alles daran, die Militärs in Bewegung zu bringen. Der Abgeordnete Halil Ibrahim Çelik erklärte: „Falls versucht wird, die religiösen Schulen zu schließen, wird viel Blut fließen.“ Es werde „schlimmer als in Algerien“. Und: „Ich will, daß Blut fließt. Dann wird die Demokratie kommen.“ Die Armee sei „mit 3.500 PKK-Militanten nicht fertig geworden. Wie will sie mit sechs Millionen Islamisten fertig werden? Wenn sie gegen den Wind pissen, wird ihr Urin ins eigene Gesicht spritzen.“ Ömer Erzeren
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