: Coole Kinder können wieder warten
Sport und Drogen in Jugendkulturen: An den klassischen Grenzziehungen scheiden sich nicht mehr Gut und Böse. Statt dessen werden die scheinbar fest verwurzelten Antagonismen zwischen Subkulturen und Leistungsgesellschaft, zwischen Druggies und Sportlern, teilweise aufgehoben ■ Von Diedrich Diederichsen
Die Truppe war ungefähr mein Alter. Zwei Typen und zwei Frauen, die nicht mehr gehen konnten und den entgegenkommenden Passanten mit den grotesk verrutschten Gesichtern anstarrten, die auf tagelang ununterbrochenes Saufen schließen lassen. Es würde gleich ein Problem geben, den Platz auf diesem Bürgersteig auf uns fünf zu verteilen. Man kann den vier Freunden ansehen, daß sie nicht zum erstenmal tagsüber und jenseits von allem hackevoll sind, aber sie sind nicht schmutzig oder verwahrlost, und ihr Outfit, ihre Frisuren, Bärte könnten als die von Berufsschullehrerinnen und Sozialarbeitern durchgehen. Ihr augenscheinliches Elend ist dennoch kein Quartals-Vatertagsexzeß. Es gehört zu einer Technik der Ausschweifung, die den heute über 35jährigen, auch wenn sie nicht süchtig sind, noch geläufig ist und die seitdem nach und nach seltener wird. Die Königsausschweifung erlebe ich gegen meinen Körper.
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Das war mal ein Weg, den disziplinierenden Anrufungen zu entgehen, der mit anderen Aufständen zusammenpaßte. Den Körper, den zentralen Unterwerfungs-Gegenstand von Machtregimen, die ihre Unterworfenen in Fabriken, Gefängnisse und Armeen trieben, durch selbstzerstörerisch lustvollen Gebrauch aus der Zirkulation nehmen. In die unvermeidliche Abfolge der Stadien der disziplinierten Existenz, von Birth- School-Work-Death, eine Zäsur hineintreiben, die letzten Endes zwar schneller zu Death oder anderen elenden Endzuständen führen würde, aber den eigenen Mißbrauch des Körpers dem gesellschaftlichen entgegensetzen konnte. Nicht umsonst sprechen alle frühen Drogensongs von Freiheit und Autonomie und Selbstverantwortung. „I made a very big decision“, heißt es in dem bekanntesten, in „Heroin“ von Lou Reed und Velvet Underground. Freilich verwechselt diese Entscheidung die Gegenstände der ideologischen Anrufung. Es geht ja nicht darum, den Körper, sondern das Individuum als Subjekt zu disziplinieren und zu unterwerfen. Doch seine „Anrufung“, wie Althusser sagt, die es als Subjekt konstituiert, verläuft damals noch sehr oft über seine körperliche Regulierung in Schule, Fabrik, Exerzierplatz bis zur verpflichtend unauffälligen Erscheinung im Straßenbild.
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Wie bestellt kräht Janis Joplin aus einem offenen Fenster, ihre erste und beste Platte mit Big Brother & the Holding Company. Die eine der beiden Frauen reagiert trotz augenscheinlich mentaler Absenz überraschend schnell und lallt zu dem Balkon hoch: „Janis Joplin, ja, das haben wir jetzt gebraucht.“ Die Aussage des Janis-Joplin-Mythos ist ja nicht nur die bohemistische, daß in der Selbstzerstörung, in dem gegen den Körper errungenen Exzeß, das höchste Glück liegt, sondern auch der, daß die zu sich und einer eigenen Stimme findende Frau-im- Rock im Feuer ihrer eigenen Authentizität verbrennt. Im Janis- Mythos steckt nicht nur die Entziehung des ohnehin anderweitig verplanten, weil weiblichen Körpers zu Zwecken eigener exzessiver Pläne, sondern auch eine neue, nun wiederum ideologische Authentizitäts-Anrufung an aufbegehrende junge Frauen jener Zeit, „ganz“ zu sein, „sich ganz hinzugeben“, in der Szene, auf der Bühne zu sterben.
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Ganz anders am Abend der junge Mann, der „Spiegel TV“ in einem Berliner Park seine Karate- und Taekwondo-Künste vorführt. Schon im Alter von vier Jahren habe er davon geträumt, „aus meinem Körper ein Kunstwerk zu machen“. Der Bruder berichtet, wie der Kleine jeden Morgen zum Spiegel gestürzt sei und seine Muskeln überprüft hätte. Und als ginge es darum, die Spaltung der Jugendkulturen in (hauptsächlich) jüngere KörperpflegerInnen und (eher) ältere KörperzerstörerInnen zu bestätigen, wird fast die Hälfte der Zeit des Kraftsportlerporträts auf seine tragische Liebesgeschichte mit einer heroinsüchtigen, etwas älteren Türkin verwandt, die mit Prostitution und Tod der Frau endet.
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Der Tod der heroinsüchtigen Frau hat immer noch eine besondere Bedeutung, weil sie einen Körper wegwirft, der nicht nur der Produktion, sondern auch der Reproduktion zu dienen hat. Nur logisch, daß er immer über die Zwischenstufe Prostitution in Geschichten des sozialen Abstiegs erreicht wird. Der Drogen-mißbrauchte und aus der Körperordnung herausgenommene Körper ist auch für glücklichen Zweier-Sex nicht mehr zu gebrauchen, der eine Mißbrauch stellt ihn für alle weiteren Mißbräuche zur Verfügung. Das den heroinsüchtigen Rock-, Poesie- und Boheme-Männern zugebilligte Moment der Befreiung von der Disziplinargesellschaft durch den Eintausch aller gesellschaftlichen Abhängigkeiten und Disziplinierungen gegen die eine, selbst bestimmte Abhängigkeit von der Droge wird bei Frauen seit dem Janis-Mythos die Determiniertheit durch die Abhängigkeit von der Droge; denn Frauen sind ganzheitlich, authentisch und körperlich. Was sie ihrem Körper antun, tun sie sich an. Männer befreien ihren Geist, Frauen verkaufen und versauen ihren Körper.
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Daß Janis Joplin und Lou Reed unterschiedliche Antworten auf ihr Nein zu „all the politicians makin' crazy sounds and all the dead bodies piled up in mounts“ erhielten, daß ihre Mythen unterschiedliche, nicht nur geschlechtsspezifische Aussagen enthielten – die, die sich bedingungslos verzehrt, gegen den, der es dann doch unter Kontrolle kriegt und die Fähigkeit erwirbt, sein früheres Leben als administrativ-soziales Problem von heute zu begreifen, seit der LP „New York“ –, ändert nichts an ihrer großen Gemeinsamkeit: die individuelle Verweigerung verwirklicht sich im Genuß an der Zerstörung des eigenen Körpers. Dieser Akt ist heroisch und spielt wie die ganze Ordnung der Disziplin in einer Welt, in der Körper für Produktion und Krieg entscheidend sind. Doch schon die Ankündigung und Verherrlichung von „Bewußtseinserweiterung“ bei Leary, Watts und anderen unterscheidet den neuen massenhaften Aufbruch zu einer Reise nach Innen per Halluzinogen von dem bohemistischen individual-anarchistischen Heroin-Vergnügen. Die Kontinuität von Paul Verlaines Absinth-Saufen reicht vielleicht bis zu Jim Morrison und zu einzelnen Bildenden Künstlern. Doch der schon bei den Beatniks begonnene Versuch, Drogenerfahrungen als wiederholbaren, pragmatischen Weg zu Selbst und Heil darzustellen, bereitet eine Massenbewegung der 60er vor, die eher an Herrmann Hesse als an Baudelaire und Burroughs orientiert, durch die Drogen Körper und Geist gesunden lassen und nicht mehr zerstören will. Sie legte den Grundstein für eine heutige Fortsetzung des Drogendiskurses – mit und ohne Drogen – zu einem universellen, aber je individuell erfahrenen Heil, das sich mit den jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen wieder verträgt. Von LSD und Ginsberg aus führten noch Wege in alle drei Richtungen – Politik, Selbstzerstörung und Meditation und Makrobiotik –, schon von Learys weltverbessernder Drogen- Ideologie aus konnte es eigentlich nur zu Bio-Kost, neuen Sportarten und postmoderner Individual-Religiosität führen.
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Drogengebrauch und Sport sind Parameter des Körperverhaltens, die einmal die Grenze zwischen Mainstream und Gegenkulturen bestimmten. Denn beide Entscheidungen, Drogen zu nehmen oder forciert dem disziplinargesellschaftlichen Imperativ zu gehorchen und Sport zu treiben, standen für vor allem ein Verhältnis zu den Anrufungen der „ideologischen Staatsapparate“ (Althusser): Wer Drogen nimmt, erklärt auf der individuellen Ebene das größtmögliche Mißtrauen gegenüber allen offiziellen Positionen von Schule, Kirche, Elternhaus, wer Sport treibt, übererfüllt sie. Beiden gemeinsam ist das Pathos der Entscheidung, in Lou Reeds „I made a very big decision...“ ebenso wie im „Ich habe mich entschlossen...“ des Sport-Novizen. Das Pathos der Entscheidung macht dem Individuum das Kompliment glorreicher Autonomie. Ich funktioniere als Individuum, wenn ich mit mir nachvollziehbar und erkennbar etwas mache. Sportler und Druggies lieben die primitive Evidenz mechanischer Kausalität an ihrem Body: Das gilt für die Überprüfung der Trainings-Effekte am Körper des Berliner Kraftsportlers ebenso wie für Reeds Beobachtung, daß „a mainer in my vein leads to a center in my head“ und daher: „When I put the spike into my vein, I tell you things aren't quite the same.“
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Wer Drogen nimmt, lernt aber auch sehr schnell, daß die ideologischen Staatsapparate einem die ganze Zeit Unsinn erzählt haben. Keine Praxis konfrontiert einen auf so einfache, klare und nachdrückliche Weise mit der Ideologizität so vieler Behauptungen so vieler Staatsapparate – Kirche, Schule, Elternhaus etc. – auf einmal wie die Drogenerfahrung. Und die diesen zugrunde liegende Wahrheit, daß Drogen zum Teil wirklich zerstörerisch wirken, lerne ich zunächst nicht kennen. Zunächst aber lerne ich, daß nichts von dem stimmt, was man mir erzählt hat. Darin liegt ein politisches Moment des Drogennehmens: Mein Mißtrauen gegen die ideologischen Staatsapparate wächst immens, lange bevor mich dann auch die Polizei tatsächlich verfolgt. So entsteht eine Sezession, das „Drop Out“ eben, das einfach vor allen anderen Ursachen schon dadurch vorbereitet wird, daß, wer mit Drogen zu tun hatte, kein Wort mehr glaubt von eben „all these politicians making crazy sounds“. Und das hat nicht nur damit etwas zu tun, daß Kirche, Schule und Eltern Ideologie produzieren oder lügen, sondern schon damit, daß zum Pathos der Entscheidung das Pathos der Erfahrung kommt – noch eine Gemeinsamkeit mit dem Sport und anderen Körpergebräuchen –, dem gegenüber jeder Diskurs schon mal ein Hohn sei. Das ist die unpolitische Seite der Drogen: ihr Mißtrauen gründet nicht (nur) auf Kritik, sondern auf dem primitiven Empirismus des Authentizismus.
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Der Sport hingegen hält die Versprechen seiner Ideologie zunächst. Das beweisen meßbare und zählbare Ergebnisse auf dem Weg der Übung und des Training. Es ist, wie sie sagen: du wirst besser. Auch wenn dieses Besserwerden sich natürlich nicht notwendig und meistens gar nicht konvertieren läßt in eine gesellschaftliche Verbesserung, so produziert die freiwillige Disziplinierung immer wieder neue Effekte der Selbstverbesserung, die mit ihrer Realität qua Meßbarkeit prahlen. Man spürt nicht nur, wie der überwundene innere Schweinehund zu neuen persönlichen Bestleistungen oder zu neuen Muskelentwicklungen führt, man kann es sich in Metern und Sekunden ausdrucken lassen. Die Kausalität zwischen „meiner Leistung“ und meiner „Verbesserung“, die Sport bietet, wird von der Verweigerung der Leistung, die ich erbringen könnte (oder auch nicht), bei gleichzeitigem Erreichen eines Ziels in der Drogenbenutzung gespiegelt. Die andere – im Sinne des Sports: „geschummelte“ oder „negative“ – Kausalität der Drogenerfahrung (Ergebnis ohne Leistung) verweigert – aus welchen Gründen auch immer – die Einsicht in das Prinzip des Disziplinarischen und berauscht sich auch gerade daran, ohne dem Prinzip zu gehorchen, Erfolg gehabt zu haben. Der Spaß an Drogen besteht auch einfach darin zu erleben, daß es anders geht. Die disziplinierte Kausalität der Körperbeherrschung freut sich dagegen, die Logik der einen umgebenden ideologischen Prinzipien zur Anwendung zu bringen. Beide denken kurzfristig: die Drogenantikausalität rechnet nicht mit den Folgekosten – langfristige Kausalität – der Selbstzerstörung, die Kausalitätsanwendung des Sports erkennt nicht, daß all die erarbeiteten Veränderungen keine der großen Veränderungen in Stellung und Lebensperspektive erbringen, für die sie symbolisch stehen. Beides sollte in den „Kontrollgesellschaften“ von Postfordismus und Postmoderne anders werden. Lifestyles übernahmen vom Training und alternative Lebensentwürfe von der großen Negation, und beide setzten auf langfristige und nicht simpel- mechanische Kausalität.
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Aus den ideologischen Substraten von Drogenkonsum und Sport – Authentizismus, Intensitäts- und Erfahrungspathos, Selbstbeobachtung, „Weg nach Innen“ – entwickelten sich neue Praktiken, die von dem gelockerten gesellschaftlichen Klima, dem Übergang von Disziplinar- in Kontrollregimes, von körperlicher Disziplinierung zu einer Rundum-Fitness für den komplexen Konkurrenzkampf begünstigt, die alte Trennlinie zwischen Mainstream und Underground, Drop Out und Disziplinierung aufkündigte und neue Modelle ermöglichte, die nicht nur auf neue „kontrollierende“ Unterwerfungen hinausliefen, sondern durchaus auch angenehme Effekte und Lockerungen in das bis dato disziplinierte Leben einschleuste – fassen wir sie symbolisch unter „Dennis Rodman“ zusammen. Langfristig bestand die Funktion dieser Entwicklung aber in der Tendenz, die brauchbaren Ideologien des Drogennehmens zu isolieren und vom Drogendiskurs auf andere, nicht mehr disziplinarische, sondern selbstkontrollierte Askese und Selbstverantwortungs- und Selbstdesign-Praktiken umzulenken und die gesellschaftlich unbrauchbaren zu isolieren und auf den tatsächlichen Gebrauch von Drogen umzulegen. Dem verelendeten Junkietum wurde ziemlich exakt um 1989 herum jede durch Nick-Cave-Chet-Baker-Romantik begründete Solidarität aufgekündigt, und seitdem gelten Junkies nur noch als Problem der Sauberhaltung von Innenstädten und Einkaufszonen. In dem Maße, in dem die postfordistische Freizeitkultur alle möglichen Formen von weichen und abseitigen, wesentlich extremeren, aber nicht mehr vereins-mäßig, sondern individuell betriebenen Sportarten anbot, koppelte sich das Sporttreiben von Disziplinierungsfunktionen eines zu härtenden Kruppstahls ab. Gerade die extremeren und durchaus Disziplin erfordernden Sportarten verstanden sich nun über individuell spirituelle und Intensitätsdiskurse. Die immer länger werdenden Laufstrecken, die immer noch nicht ausreichten und schließlich mit Schwimmen und Radfahren gekoppelt werden mußten, um den immer noch nicht genügend ausgepumpten Körper auf Trab zu halten, wurden von einem neuen Typus selbstverwirklichter Asketen bevölkert, dessen Selbstverständnis sich von den Gott- und Tibetsuchern der 60er aber nicht so stark unterschied. Es gab einen Weg von Ginsberg, Grateful Dead und Goa zum Iron Man, aber keinen von Janis und Nico. Und umgekehrt gab es natürlich einen Weg von Kampfsport und Kickboxen zum frühen, von Triathlon und Free Climbing zum späten Ernst Jünger.
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Zum anderen bediente sich die neue Sportkultur der von säkularisierten und käuflich gewordenen Subkulturen übernommenen diversifizierenden Funktion der Identifikation mit einem Freizeitverhalten. Strukturell schuldete diese Diversifizierung auch noch manches den klandestinen Organisationsformen der klassischen Drogenkulturen. Wieder der „Beat-Generation“-Dokumentation läßt sich die Lesart von Grenzen ziehenden Codes wie Hipness und Coolness als Fortsetzung, Imitation und Habitualisierung der Verdunkelungs- und Geheimhaltungsgepflogenheiten von Drogenkulturen entnehmen. Dabei übernahmen viele der neuen, um Fashion-Codes und Popstar-artige Figuren herum entstandenen Trend-Sportarten nicht nur die Differenzierungsfunktion von Subkulturen, sondern auch den Intensitätsdiskurs einerseits von der Drogen-Kultur, andererseits von den Extremsportarten.
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Das heißt nicht, daß keine Drogen mehr genommen werden, und auch nicht, daß sie nicht mehr wichtig sind, nach wie vor auch als Ab- und Erkennungszeichen bestimmter Szenen wie etwa der Blunt für die ebenso an Streetball wie an Drogen interessierte HipHop-Szene. Aber sie sind eine Variable von vielen geworden, die beliebig ersetzbar und kombinierbar mit bestimmten Musikrichtungen und Dress-Codes und Sportarten einen Stil ergeben. Neu ist, daß über das Scharnier der Sportmoden auch normalerweise eher unansprechbare Jugend-Szenen – wie die HipHop-Kultur – adressierbar werden für die Mainstream-Kultur und ihre Ideologie. Darüber hinaus ist allen diesen Entwicklungen gemeinsam, daß sie die quasi-religiösen Selbstverwirklichungsvorstellungen oft asiatischer Bauart (zwischen Kung-Fu für die Prolls und Zen-Meistern für die Kleinbürgerkinder) als Ersatz für die alten Disziplinierungsmodelle übernommen haben. Der neue Glamour von Buddhismus und Dalai- Lama-Mania reicht ja von ideologisch unverdächtigen Gestalten wie dem Wu Tang Clan bis zur gealterten New-Wave-Elite um David Byrne und Laurie Anderson. Kloster – ob in der Comic-Version oder ganz ernst gemeint – ersetzt Kasernenhof auf dem berühmten Weg von Disziplinar- zu Kontrollgesellschaft. Schließlich fällt weiterhin auf, daß durch die neue Wichtigkeit von Sport in Sub- und Gegenszenen der aggressive, durchtrainierte männliche Körper auch in traditionell nicht einverstandenen Szenen so stark an Einfluß gewonnen hat, daß man den netten alten, schlaffen, schlurfigen Kifferkörper endgültig unter Naturdenkmälerschutz stellen kann. Orientierungen an klassischen Geschlechterrollen sind in dem Maße auf dem Vormarsch, wie Sport in Subszenen eindringt.
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Die neuen Sportarten, die bei Jugendszenen den Credit haben, den der alte Vereinssport nicht hat, betonen eher die individuelle Verantwortung fürs eigene Leben und weniger die Disziplin. Nicht eine mir selbst fremde Disziplin nötigt mich, den inneren Schweinehund zu unterwerfen, sondern meine Coolness und höhere Einsicht. Die wenigen Modelle von Sportlern, die immer schon Jugendkultur- kompatibel waren, Surfer und Skater, stellen mit ihren Mythologien Prototypen dieser Entwicklung dar. Zur Betonung der individuellen Verantwortung, die nun auch die Zigarettenindustrie für ihre Kampagne „Cool kids can wait“ im Acid-Jazz-Design entdeckt hat, gehört, daß die alte Trennlinie zwischen Drogen- und Sportbenutzern, die immer noch gesamtgesellschaftlich über gut und böse, Ächtung oder Honorierung entscheidet, nichts mehr über die Szene selbst aussagt. Beide – Drogen- wie Sportbenutzer – können sich demselben Style verpflichtet fühlen. Wer dem Janis-Joplin-Lebensstil zustimmte, hätte nie damit rechnen können, einen Sportler zum Lebensgefährten zu gewinnen, für den Kampfsportler von heute lebt die heroinsüchtige Freundin aber durchaus in derselben Szene. Der Weg vom Blunt zum Basketball- Training ist ohne Wechsel des Styles zu haben.
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Umgekehrt sind aber die unterschiedlichen geschichtlichen Stadien der Drogenmentalität auch in den Bereich des klassischen Leistungssports eingedrungen. War das Dopen in den 60er Jahren und früher einfach ein sportfremdes Schummeln, das keine lebensstilistischen, nur ethisch-moralische Konsequenzen in der Welt der Fairness hatte, wurde später auch Doping zu einer Entscheidung aufgrund von individuellen Eigenschaften, die auf sehr unterschiedliche Weise ausfallen konnte. Die post-disziplinarischen Selbsttechniken, die in der Sportwelt von Makrobiotik bis zu Manneszucht und Meditation reichten und zuweilen begrüßenswerte Formen von Exzentrik hervorbrachten, fächerten eine Vielzahl von Selbstbehandlungsmöglichkeiten auf. Entscheidend war ja nicht mehr die alte sichtbare und erlebbare Ursache- Wirkung-Beziehung, weder bei Training noch bei Droge, sondern das Leben nach einem bestimmten Gesetz oder Code, der Lebens- und Trainingsstil. Im Rahmen solcher Selbstbehandlungen wurden die Grenzen zwischen den vielen Mittelchen, die irgendwie gut für einen sein sollen, zum guten alten Doping-als-Schummeln immer unklarer, höchstens bei BürgerInnen der ehemaligen DDR, an denen sich dann auch richtige Exempel statuieren ließen. Westdeutsche Leichtathleten pflegten schon seit den frühen 80ern zu reden wie LSD-Astronauten oder Esoteriker, wenn sie vor dem Wettkampf „in sich hineinhören“ und der Sport immer mehr zu einer Sache der „mentalen Zustände“ wird. Aber gerade ein so psychedelisierter Sport konnte seine Sonderstellung als Institution und die klare Grenze zu allen Bewußtseinsexperimenten nur behaupten, wenn er besonders scharf propagandistisch gegen Doping vorging und vor allem in den letzten Jahren seinen inneren Feind Doping gemeinsam mit dem ideologischen Satanas Drogengebrauch schlechthin zusammen bekämpfte. Andy Goldberger muß das jetzt ausbaden. Aber immer länger und komplizierter gewordene Listen von als Doping gebrandmarkten Wirkstoffen konnten das ebensowenig in den Griff bekommen wie Rückfälle in alte Sauberkeitsideologien.
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Doch bloße Behauptungen von klaren Unterschieden zwischen Drogenbenutzern und Sportlern waren nicht ohne weiteres überzeugend. Schwitzend erschöpfte Raver in Radsportoutfits ließen sich nicht so leicht als abschreckende Ecstasy-User verkaufen, wenn die Volkslauf- Beteiligten und Stadtmarathonläufer auf Bildern genauso aussehen. Die beiden von der Jugendkultur ursprünglich ausgehenden Intensitäts- und Authentizitätsdiskurse sorgen dabei für Verwirrung und Ununterscheidbarkeiten. Der alte Authentizitätsdiskurs der Hippie- Generation („Selbstverwirklichung“) ließ sich noch relativ leicht auf die alte Unterscheidung zwischen „natürlicher“ (= sportlich- disziplinarischer) Körperbenutzung und „künstlicher“ (= chemischer) übertragen, die schon immer die alte Sport- und Disziplinar-Moral kennzeichnete, durchaus gegen einige Initiatoren dieses Diskurses, die wie Leary oder Ginsberg und neuerdings in Techno-Kreisen Leute wie Terence McKenna meinen mochten, daß gerade durch (die richtige, indianische oder indische oder schamanistische) Chemie sich die wahre Menschennatur entfalte. Aber der Intensitätsdiskurs stand im Laufe der Zeit immer mehr und immer heterogeneren und unkontrollierbar vielen gesellschaftlichen Gruppen und Praxen zur Verfügung.
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Dieser Verwechselbarkeit mußte im Allgemeinen ebenso vorgebeugt werden wie im Besonderen des Sports. Nachdem das Medien-Image des Rave-Exzesses bis circa 1995 noch Schonzeit hatte, nicht zuletzt wegen des Interesses der werbetreibenden Industrie an dieser kompakt vorstellbaren und benennbaren Zielgruppe, die frischer aussah und sozial konturierter und anschaulicher wirkte als „Generation X“ oder „Grunge“, ist seitdem die Jagdsaison eröffnet. 1995 erschienen noch Ecstasy- Guides in Publikumszeitschriften. Heute hat die Szene, und ihre Organisationsformen, sozial an Bedeutung verloren und kann sortiert werden: hier das akzeptabel-lustige, Hauptstadttourismus ankurbelnde vatertagsähnliche „Love Parade“-Segment, dort die Drogenbenutzer, die mit den üblichen Epitheta belegt werden wie Drogenbenutzer schon immer. Das mag auch damit zu tun haben, daß Ecstasy nicht kontrollgesellschaftlicher Lebensstil ist, sondern noch klassisch antidisziplinargesellschaftliches Ursache-Wirkung- Verhalten – Einpfeifen und Draufkommen. Dafür war es aber eingebunden in einen solchen neuen Lebensstil, war Bestandteil einer Fülle von neuen selbstsorgerischen Körperpraktiken. Erst seit es sich wieder einfach als Drogennehmen alter Schule isolieren läßt, wird es geächtet.
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Die Unterscheidung zwischen Disziplinar- und Kontrollgesellschaft, die ich hier, von Gilles Deleuze geborgt, verwendet habe, ist zur Zeit sehr populär. Sie könnte helfen, die hier geschilderten Vorgänge als Geburtswehen der Entstehung einer Kontrollgesellschaft zu erklären, in der schließlich jeder für sich selbst verantwortlicher Einzelkonkurrenzkämpfer sein wird und auf eine Fülle von Mitteln, solchen von Training und Selbstzucht und solchen, die klasssich zu den Drogen zählen würden, zusammengefaßt zu einem Lebensstil, zurückgreift und zurückgreifen darf, um als ein allzeit fitter, frei entscheidender Funktionsträger lean organisierter Teams in zukunftsorientierten Betrieben zu funktionieren. Dann würde die Grenze nicht mehr zwischen Drogen und Sport verlaufen, sondern zwischen verantwortlichem und selbst verantwortetem Einsatz von Intensität, Disziplin, Chemie und Grenzerfahrung und deren unverantwortlichem Einsatz, der Selbstzerstörung. Bei aller Begeisterung für die analytischen Möglichkeiten dieses Begriffs würde ich davor warnen, die der „Kontrollgesellschaft“ zugeschriebenen, durch „freiwillige“ Praktiken des Selbst zustande gekommene „Kontrolle der Seele“ ganz auf diese in letzter Instanz vielleicht konformisierenden und unterwerfenden Effekte pessimistisch-verschwörungstheoretisch zu reduzieren. Es ginge aber auch nicht darum, optimistisch weiter nur das Verschwinden der Disziplin zu feiern, sondern die neuen Praktiken von Fall zu Fall anzuschauen und zu unterscheiden, was einer mit einem Berg-, Surf- oder Meskalin-Erlebnis macht. Radikaler individueller Einspruch gegen die Disziplinargesellschaft war es, Heroin zu nehmen, um den Preis, die Negation der körperlichen Anrufung zur Negation des Körpers selbst zu treiben, ihn zu vernichten. Was dieses spirituelle Heroin sein könnte, das die kontrollierenden Effekte und Anrufungen der neuen Praktiken des Selbst negiert, ohne die Seele selbst zu töten, bleibt zu bestimmen.
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