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Keine Zeit für Endzeitverkünder

■ Anselm Lange, Bündnis 90/Grüne: Politik noch immer notwendig

Regelrecht chic scheint's dieser Tage zu sein, das Ende der Schwulenbewegung zu verkünden. Noch einmal dürfe, so die Protagonisten der Dämmerungsthese, anläßlich des Jubiläums „100 Jahre Schwulenbewegung“ ausgelassen gefeiert werden, aber danach gehe bitte jeder an seinen Platz in der nunmehr so schönen schwulen Welt zurück und vermeide tunlichst das Jammern über verbliebene Restposten gesellschaftlicher Diskriminierung. Wo, frag' ich mich, leben diese Endzeitverkünder? Unsere Gesellschaft kann dies nicht sein.

Ja, es gibt viel zu feiern. Wer hätte noch vor zehn Jahren zu vermuten gewagt, daß Schwule einmal so präsent sein würden im öffentlichen Leben? Wer hätte nach 100 Jahren Film und seinen homophoben Verrissen geglaubt, daß der Hollywood-Streifen selbst einmal zum Homo-Aufklärungsmedium avancieren würde? Doch andererseits: Wer hätte gedacht, daß angesichts eines solchen massiven kulturellen (und zu einem bescheidenen Teil auch gesellschaftlichen) Auf- und Umbruchs die Mehrheitspolitik in all ihrer Bräsigkeit ungerüttelt verharren könne? Ein veränderter gesellschaftlicher Blick auf Homosexualität wird weiterhin politisch ignoriert. Noch immer sind wir meilenweit von Antidiskriminierungsklauseln in maßgebenden Gesetzen entfernt. Noch immer ist der gesetzliche Weg zur Gleichstellung homosexueller Partnerschaften nicht einmal ansatzweise beschritten. Ehe gibt es nicht mal light. Von Adoptionsrechten für Homo-Paare verbietet sich bislang auch nur zu träumen. Es herrscht Funkstille in der deutschen Gesetzgebung, wenn ein schwuler Partner oder eine lesbische Partnerin AusländerIn ist. Auch ein Asylrecht für aufgrund ihrer Homosexualität verfolgte Menschen bleibt weiterhin ausgeschlossen. Die Gesellschaft, die ihre Minderheiten – vielleicht wenigstens mit relativer Gleichmut – toleriert, muß erst noch erstritten werden. Zum Zeitpunkt ihrer 100- Jahr-Feier steht die Schwulenbewegung am Scheideweg. Was fehlt, ist ein energischer Schritt raus aus der Bewegungsisolation. Der Brückenschlag zu anderen Emanzipationsbewegungen – wie MigrantInnen und Behinderten – muß endlich ernsthaft angegangen werden. Ein erstes Gemeinschaftsprojekt kann ein gemeinsames Antidiskriminierungsgesetz sein, das die Gleichstellungs-Anliegen von Lesben, Schwulen, MigrantInnen und Behinderten verknüpft und für das gemeinsam um eine politische Mehrheit gerungen wird.

Bewegung am Ende? Nein. Minderheitenpolitik wird neue Verbindungen eingehen müssen. Auch der Austausch zwischen homopolitischen AktivistInnen und Menschen aus Kultur und Wissenschaft muß intensiviert werden. Nur zusammen läßt sich gesellschaftliches Bewußtsein nachhaltig verändern.

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