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■ Sabine OffeIm Gedächtnis von Familien versanken die Verbrechen des Krieges im Schweigen

Die Reaktionen auf die Ausstellung sind mittlerweile zu einem Bestandteil der Ausstellung selbst geworden. Sie lassen sich nicht zureichend erklären mit dem, was die Ausstellung dokumentiert, und sie lassen sich nicht reduzieren auf die Frage, wer dafür sei oder dagegen und ob die Ausstellung hier oder dort gezeigt oder nicht gezeigt werden möge. Wie die privaten Gespräche und öffentlichen Debatten während der letzten Wochen gezeigt haben, ist die Ausstellung nicht nur Anlaß, sondern ihre Wirkung auch Resultat eines Redebedürfnisses, mit dem die Geschichte der Wehrmacht und des deutschen Krieges in die individuellen Lebensgeschichten hereingeholt wird. Sie ist auch Resultat eines Erinnerungsprozesses in der Bundesrepublik, der sich beschreiben läßt als wachsende Konkretisierung von Orten, Zeiten und Personen der NS-Geschichte im Bewußtsein eines Teils der Öffentlichkeit. (...)

Die Ambivalenz von vagem Opfergedenken und diffuser Anonymität der Tatbeteiligten, Tatorte und Tatabläufe hat die Geschichte der Bundesrepublik lange geprägt und schuf eine seltsame Atmosphäre der Unwirklichkeit. Die Entwirklichung des Krieges, den die deutsche Wehrmacht geführt hat, hat besonders lange angedauert. „Unseren Toten aller Kriege“lautete die Inschrift eines Denkmals, die geringfügig abgewandelte Ergänzung „Allen Toten unserer Kriege“, die jemand darauf gesprüht hatte, wurde 1983 lediglich als Denkmalschändung diskutiert. Der in den Nachkriegsjahren, den Jahren meiner Kindheit, in Gesprächen erinnerte Krieg war nicht der Krieg an den Wehrmachtsfronten im Osten, Westen, Süden und Norden Europas, sondern der Krieg der Alliierten in Deutschland, waren die Kriegserfahrungen der Zivilbevölkerung. Denn erzählt wurden die Kriegserinnerungen überwiegend von den Frauen. Väter, die zurückgekommen waren, spielten eine eher randständige Rolle in den meisten Familien. Die abwesenden Väter waren „gefallen“oder wurden „vermißt“, Euphemismen für ihren Tod, die jedenfalls jede Nachfrage nach Ort und Umständen unterbanden. Ich kann mich nicht erinnern, während meiner Schulzeit oder in den Jahren danach je Gespräche mit Gleichaltrigen darüber geführt zu haben, was sie über ihre toten Soldatenväter wußten. Helden allerdings waren Wehrmachtssoldaten für uns nicht, zu unheimlich gegenwärtig waren die „Kriegsversehrten“und „Schwerbeschädigten“, auf deren fehlende Arme oder Beine zu starren uns Kindern als ungehörig untersagt wurde. Teil der physischen Alltagserfahrung der Nachkriegszeit war der Krieg vor Ort, solange die Bombenschäden sichtbar waren. Die Kriegsschauplätze im Ausland wurden aus dem Gedächtnis verbannt, im Westen verwandelten sie sich bald in Urlaubsziele, im Osten bildete der sogenannte eiserne Vorhang des kalten Krieges auch eine Grenze der Wahrnehmung. Öffentlich wurden der Krieg der Wehrmacht kaum, die Verbrechen der Wehrmacht gar nicht thematisiert, deren strafrechtliche Aufklärung unterblieb in der überwältigenden Mehrheit der Fälle aus politischen Gründen. Die Anerkennung der Offiziere vom 20. Juli 1944 wurde „gegen die starken widerstrebenden Kräfte in der Bundeswehr errungen Ä...Ü Die Männer des Attentats wurden aus der Mottenkiste geholt, als die Politik der Bundesregierung wegen der Leerheit ihres sittlichen Grundes es für zweckmäßig hielt.“(Karl Jaspers) Im Gedächtnis von Familien versanken die Verbrechen des Krieges im Schweigen, das ehemalige Wehrmachtssoldaten wahrten und das die Familienmitglieder, die Frauen zunächst und später, als sie hätten fragen können, auch die Kinder, zu brechen sich hüteten.

Es scheint mir müßig, dieses private Schweigen rückblickend zum Vorwurf zu machen – immerhin kam darin auch zum Ausdruck, daß Tabus respektiert wurden. Aber dieses Schweigen über den Krieg und über die Verbrechen der Wehrmacht hat eine bis heute anhaltende Sprach- und Bilderlosigkeit im sozialen Gedächtnis der Bundesrepublik erzeugt, die nun durch die Ausstellung in ganzem Umfang deutlich wird. Es ist die erste Ausstellung, die zum Anlaß öffentlicher Debatten über die Rolle der Wehrmacht und über die der einzelnen Soldaten während des Nationalsozialismus geworden ist. Erst jetzt, da angefangen wird, öffentlich darüber zu reden, werden die Verbrechen dieses Krieges benennbar, lokalisierbar und damit erinnerbar. Bilder und Geschichten, die sie anstößt, gehen weit über das hinaus, was sie an Geschichte dokumentiert. Im Medium der Ausstellung und im öffentlichen Reden beginnen sich Leerstellen der privatisierten Erinnerung vieler Besucher mit Bildern und Fakten zu füllen und Erinnerungsfragmente fügen sich in einen erzählbaren Zusammenhang. Auch ehemalige Wehrmachtssoldaten reden vom Krieg, auch sie bestreiten – von wenigen abgesehen – nicht, was die Ausstellung an Verbrechen dokumentiert, halten aber andere Geschichten dagegen, die bezeugen, daß auch ihre Kriegserinnerungen keine, wie Freud es einmal genannt hat, „beruhigten Denkmäler“geworden sind. Manche Familiengeschichten der zweiten Generation wirken wie öffentliche Selbstgespräche, wie Bekenntnisse, die zum ersten Mal gemacht werden. Die Erinnerungen sortieren die Generationen nicht nur nach Eltern, Kindern, Enkeln, sondern nach kürzeren Intervallen, nach Altersgruppen, die Wehrmachtsoldaten waren, Luftwaffenhelfer, Kriegs- und Nachkriegskinder, nach Angehörigen der 68er-Generation und den viel Jüngeren, die weniger befangene und deutlichere Fragen stellen können.

aus der Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944“

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