Schneller sterben in SO 36

■ Im ärmsten Bezirk der Stadt leben die Menschen durchschnittlich sechs Jahre kürzer als im reichen Zehlendorf. Lungenkrebs und Tuberkulosefälle in Kreuzberg doppelt so häufig

Der Arzt am Schlesischen Tor in Kreuzberg macht offene Sozialarbeit. Am Vormittag ist die Praxistür nicht verschlossen. Tätowierte Gestalten schwanken herein, um sich in kleinen Plastikflaschen ihre Ersatzdroge Methadon abzuholen. Ein alter Malocher sitzt mit rasselndem Atem im Wartezimmer, eine verhärmte Oma schüttelt unablässig den Kopf, als wollte sie ihrem Leben ein dauerndes „Nein“ entgegenschleudern. Der Angestellte mit weißem Hemd und grauem Jackett, der zum Abschied freundlich ade sagt, wirkt fremd in der Praxis.

Wie aufgeräumt ist die Welt dagegen in der Praxis an der Zehlendorfer Clayallee. Im fast leeren Wartezimmer stehen rote Ledersessel und ein Holzpferdchen für die Kleinen. Die zwei bestellten PatientInnen müssen nicht lange warten. Die beiden braungebrannten Sprechstundenhilfen in ihren Karo-Tops haben Zeit für gepflegte Gespräche. Eine ältere Dame mit lackierten Fingernägeln möchte „den Herrn Doktor gerne sehen und hören“. Er findet nichts, außer einigen Anzeichen für zu reichhaltige Ernährung.

Im gerade veröffentlichten Sozialstrukturatlas steht Kreuzberg am Ende aller Bezirke. Schlechter sind die Lebensverhältnisse nirgendwo in der Stadt. Wer zwischen Spree und Hasenheide wohnt, stirbt durchschnittlich sechs Jahre früher als die Bevölkerung Zehlendorfs, dem Bezirk an der Spitze der Sozialskala. Die Lebenserwartung im Armenhaus Berlins lag 1990 bis 1994 bei rund 71, im grünen, wohlhabenden Südwesten bei 76 Jahren. Die Zahl der SozialhilfeempfängerInnen, Arbeitslosen und miesen, kleinen Wohnungen ist in der Innenstadt viel größer als am Rande des Grunewalds. Auch leben wesentlich mehr Alleinerziehende mit Kindern unter 18 Jahren in Kreuzberg, und auch die Anzahl der Single-Haushalte ist beträchtlich. Sie liegt bei fast 50 Prozent.

Die Statistik zur Gesundheitssituation zeigt ein ähnliches Gefälle. 1992 bis 1994 starben 64 Kreuzberger Männer an Lungenkrebs, in Zehlendorf 30. Immerhin 39 Kreuzberger Frauen erlagen im gleichen Zeitraum einer Leberzirrhose, während es im Südwesten 15 waren. Freilich hält der Innenstadtbezirk nicht bei allen Krankheiten und Altersgruppen die Spitzenposition. Doch die durchschnittliche Häufigkeit aller Krankheiten senkt die Lebenserwartung erheblich unter den Durchschnitt.

Am einfachsten ist es noch, bei der Tuberkulose (1992 bis 1995 in Kreuzberg 40 gemeldete Fälle, in Zehlendorf 23) einen Zusammenhang zur sozialen Situation herzustellen. „Sonne tötet die Tuberkel- Bakterien“, erklärt der Arzt vom Schlesischen Tor. Wer in einer hellen, luftigen Wohnung lebt, hat bessere Chancen, gesund zu bleiben. Trotz der Entkernung vieler Höfe gibt es im Stadtteil der Fabriken und Mietskasernen noch jede Menge dunkle Löcher, in die kaum der Strahl der Sonnen dringt, und in denen die BewohnerInnen auf engstem Raum zusammenleben. Das erhöht die Ansteckungsgefahr, ist die Tuberkulose erst einmal eingeschleppt worden. Auch im Drogenkonsum, der in Kreuzberg sehr viel stärker ausgeprägt ist als in anderen Bezirken, liegt eine Ursache für den frühzeitigen Tod.

Ansonsten seien „simple Erklärungen nicht leicht zu finden“, meint der Kiezmediziner vom Schlesischen Tor. Als häufige Krankheiten in seiner Praxis erkennt er chronische Bronchitis und Asthma, doch rauchen die Menschen an der Wiener- und Oranienstraße mehr als die Zehlendorfer BürgerInnen? Das kann man nur sehr schwer herausfinden. Eine mögliche Erklärung jedoch hat der Zehlendorfer Kollege zur Hand: „An der Skalitzer Straße ist die Belastung durch Autoabgase viel höher als auf meinem Grundstück am Wald.“

Warum aber sterben in Kreuzberg mehr Frauen an Brustkrebs – einer Krankheit, deren Risiko durch regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen beim Gynäkologen erheblich herabgesetzt werden kann? Der Kiezdoktor führt viele Sterbefälle auf mangelndes Gesundheitsbewußtsein zurück: „Vielleicht hat ihnen niemand beigebracht, sich um sich selbst zu kümmern.“ Passivität wiederum mag etwas mit der sozialen Situation zu tun haben. Sein Geld jahrelang vom Sozialamt zu bekommen, ist der Selbstverantwortlichkeit für das eigene Leben nicht gerade förderlich.

Aus dem reichen Südwesten bestätigt der andere Arzt diese Einschätzung: „In den edlen italienischen Restaurants gibt es kleine Portionen und gesundes Essen.“ Der moderne Manager achte auf seine Gesundheit, gehe regelmäßig zum Arzt und gebe sich mit einem Glas Prosecco zufrieden. Und dieser könne sich sein Wohlbefinden aber auch leisten: Der Tennisplatz am Grunewald ist nicht umsonst, sondern kostet eine Stange Geld. So laufen die Erklärungen, trotz aller Zwischentöne, doch auf einen einfachen Satz hinaus: „Armut macht krank“, sagt Ingeborg Junge-Reyer (SPD), die Sozialstadträtin von Kreuzberg. Hannes Koch