: Der Eindruck der Zweiklassenjustiz bleibt
■ In Wirtschaftsstrafverfahren kämpfen Staatsanwaltschaften gegen ein Vorurteil
Freiburg (taz) – „Stiehlt einer ein Geldstück, dann hängt man ihn. Wer aber durch Monopole, Wucher und tausenderlei Machenschaften noch soviel zusammenstiehlt, der wird unter die vornehmen Leute gerechnet.“ So klagte im 16. Jahrhundert der gelehrte Erasmus von Rotterdam. Und manches spricht dafür, daß seine Klage auch heute noch Aktualität besitzt.
Manche Vorurteile sind allerdings inzwischen überholt. So sind die Zeiten vorbei, als die Staatsanwaltschaften mit aufgedeckten Wirtschaftsdelikten inhaltlich noch völlig überfordert waren. „Damals wurden die beschlagnahmten Aktenberge erst einmal in den Keller geräumt, und plötzlich war die Verjährung eingetreten“, malt der Freiburger Professor für Wirtschaftsstrafrecht, Klaus Tiedemann, ein dunkles Bild der 60er Jahre.
Heute gibt es in fast jedem Bundesland zwei bis drei gut ausgestattete Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften. Dort arbeiten Juristen und Ökonomen im Team zusammen, so daß auch in komplizierten Verfahren mit Sachverstand ermittelt und angeklagt werden kann. Der personelle Aufwand ist im Vergleich zur Verfolgung der allgemeinen Kriminalität sogar überproportional hoch. Ein Beleg dafür, daß in der Justiz die Glaubwürdigkeitslücke erkannt wurde.
Der Konstanzer Rechtsprofessor Wolfgang Heinz hat ein weiteres Vorurteil widerlegt: „Bei Wirtschaftsdelikten wird das Verfahren nicht häufiger eingestellt als bei normaler Kriminalität.“ Doch dieser Befund, darauf weist Heinz ausdrücklich hin, verbirgt eine andere Ungerechtigkeit. Die Schadenshöhe der eingestellten Wirtschaftsdelikte ist nämlich um ein Vielfaches höher als bei anderen Delikten. Untersuchungen aus den 80er Jahren ergaben, daß bei eingestellten Verfahren gegen Ladendiebe durchschnittlich ein Schaden von 24 Mark zugrunde lag. Bei Wirtschaftsverfahren galt dagegen im Schnitt ein Schaden von 22.000 Mark noch als „geringfügig“.
Die Zweiklassenjustiz setzt sich dann im Gerichtssaal fort. In keinem anderen Deliktbereich gibt es so viele „Deals“ zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft einerseits und der Verteidigung andererseits. Da der Sachverhalt meist schwer zu durchschauen ist, hat die Verteidigung die Möglichkeit, den Prozeß mit umfangreichen Beweisanträgen in die Länge zu ziehen. Vor diesem Hintergrund kommt es zu „prozeßökonomischen“ Absprachen, die beiden Seiten nützen sollen. Für ein (Teil-)Geständnis und den Verzicht auf weitere Beweisanträge kann die Verteidigung oft die Zusage milder Strafen und die Einstellung von schwer aufklärbaren Teilvorwürfen erreichen.
„Solche Absprachen sind unverzichtbar, um Riesenverfahren überhaupt justitiabel zu machen“ erklärt etwa Rainer Buchmann, seit 27 Jahren bei der Stuttgarter Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft und ihr heutiger Leiter. Er hat gerade das Verfahren um den Fast- Konkurs der Südmilch-Molkerei abgeschlossen. „Das Verfahren hat fast eineinhalb Jahre gedauert und hätte noch viel länger dauern können, wenn wir nicht Kompromisse geschlossen hätten“, betont Buchmann. Rechtsprofessor Klaus Tiedemann will solche Absprachen zwar nicht verbieten, aber doch gesetzlich regeln. „Heute ist die Praxis von einem Gerichtsbezirk zum andern doch sehr unterschiedlich“, kritisiert Professor Tiedemann.
Die Fahnder bei Polizei und Staatsanwaltschaft sind häufig frustriert, wenn sie ihren Ermittlungsaufwand mit dem Prozeßresultat vergleichen. Werden überhaupt Strafen verhängt, sind diese (im Verhältnis zum Schaden) eher mild. Auch die Südmilch-Manager kamen trotz des Millionenschadens mit Bewährungsstrafen davon. Begründet wird dies mit der „erhöhten Strafempfindlichkeit“ von Tätern aus der Mittel- und Oberschicht. „It's more gentlemenlike“, beschrieb der Bremer Kriminologe Christian Lüdemann die „Prozeßkultur“ in Wirtschaftsstrafverfahren. Christian Rath
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