: Sorge um die Seelsorge hinter Gittern
■ TheologiestudentInnen der Humboldt-Uni veranstalteten ein Seminar in der Anstaltskirche des Tegeler Gefängnisses - aus Protest gegen die Abwicklung der Gefängnisseelsorge. Bibelkreis der Knackis nahm
„Wir sind hier, um gegen die Sparmaßnahmen zu protestieren, die hier die Gefängnisseelsorge zugrunde richten sollen“, hebt der Herr Professor an, und seine Worte treffen in einem ungewöhnlichen Hörsaal auf offene Ohren: Peter Welten, Theologe in Diensten der Humboldt-Universität, hat die heutige Sitzung des Seminars „Sünde, Sühne, Vergebung“ aus gegebenem Anlaß in die Anstaltskirche der JVA Tegel verlegt. Etwa dreißig Studierende sind ihm durch die Sicherheitskontrollen gefolgt, um mit acht Gefangenen aus dem Bibelkreis in Dialog zu treten. Das Thema der Stunde: Sündenböcke.
Am Anfang ist Verwirrung: „Wer seinen Sündenbock fortgejagt hat, ist selber schuld“, eröffnet Gefängnispfarrer Rainer Dabrowski die Debatte nach einem kurzen Brainstorming recht vieldeutig. Selber schuld zu sein, erläutert er, das sei für ihn etwas Positives. „Wir sind darauf angewiesen, daß uns Schuld abgenommen wird“, meint eine Studentin. Ein Gefangener: „Aber niemand fragt, wie sich der Bock dabei fühlt.“
Ein wenig Bibelexegese bringt Klarheit: Schon im Alten Testament trug der Sündenbock rituell die Last anderer. Mit der Last der menschlichen Sünden wurde er in die Wüste gejagt, sein Blut, dargebracht als Symbol des Lebens, wusch den Sünder rein. Nicht schön für den Bock, wie ein Häftling feststellte, doch das arme Tier blieb im Alten Testament immerhin unschuldig. „Heute sagen wir: ,Da ist der böse Täter‘“, meint ein Student, kurz bevor es allzu akademisch wird, „eine Abschiebung, die wir zu unserer eigenen Entschuldigung brauchen.“ – „Ich habe große Probleme mit der Unterscheidung nach Ihr und Wir, junger Freund“, donnert der katholische Anstaltspfarrer, „der Übergang ist fließend!“
Die meisten der angehenden Theologen sind nicht zum ersten und letzten Mal zu Gast im Knast, denn Professor Peter Welten legt Wert darauf, bei der Arbeit mit den alten Bibeltexten über Sünde und Sühne „ein Stück Erfahrungsbezug herzustellen“. In Kleingruppen besuchen die Studierenden zur Zeit verschiedene Gefängnisse Berlins, um offene Gespräche mit den Gefangenen zu suchen. Nicht nur um religiöse Fragen geht es dabei: „Es wird auch viel über die Biographien der Inhaftierten gesprochen“, berichtet Welten. „Vor allem inhaftierte Frauen empfinden oft ihr ganzes Leben als eine Kette von Versagen, in der das Verbrechen, das sie ins Gefängnis gebracht hat, nur eine Episode ist.“ Von solchem Gesprächsbedarf weiß auch Gefängnisdiakon Rolf Watermann zu berichten: „Ich bin oft der erste Mensch, dem jemand seine Lebensgeschichte anvertraut.“ Kein Wunder, denn im Knast stehen nur die Geistlichen unter Schweigepflicht – Sozialarbeiter etwa sind sogar verpflichtet, vollzugsrelevante Informationen über ihre „Schützlinge“ aktenkundig zu machen.
Zu vertraulichen Gesprächen werden die Gefängnisseelsorger in Zukunft freilich kaum noch Zeit finden, befürchtet Pfarrer Dabrowski. In der einen Hand den Telefonhörer, mit der anderen Papiere sortierend – so stellt er sich die Vertrauensleute der Zukunft vor. Denn die Herbstsynode der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg hat im vergangenen Jahr beschlossen, daß in naher Zukunft von den bisherigen 9,5 Seelsorgerstellen nur 5,5 erhalten werden sollen – für alle acht Haftanstalten Berlins, bei steigenden Häftlingszahlen. Allein in Tegel sitzen 1.600 Gefangene ein. Dabrowski wird im November in den Wartestand versetzt, Diakon Watermann soll gekündigt werden. Eine harter Schlag insbesondere für die etwa 120 „Lebenslänglichen“. „Die meisten sind schon mit der Erfahrung hierhergekommen, daß die entscheidenden Beziehung in ihrem Leben immer wieder abgebrochen wurde“, sagt Dabrowski, „und nun werden ihnen wieder die einzigen Menschen genommen, an die sie sich vertrauensvoll wenden können.“ Und ein Mitglied der Insassenvertretung ergänzt: „Der Glaube kann eine Kehrtwende für den einzelnen bedeuten, indem ein Unrechtsbewußtsein entwickelt wird.“ Den Glauben zu verkünden, die ureigene Aufgabe der Kirche, fügt ein anderer hinzu, sei allein mit einem Gottesdienst pro Woche nicht mehr erfüllbar. Am Sonntag kommen bis zu hundert Gefangene in die Kirche.
Die Insassenvertretung hat sich ebenso für den Erhalt kontinuierlicher Seelsorge ausgesprochen wie die Anstaltsleitung, die Studierenden der Humboldt-Uni sind von allen Seiten ausdrücklich erwünscht. „Besucht uns!“ lautet auch das Schlußwort von Anstaltspfarrer Dabrowski. „Die Gemeinde hier drin lebt von den Kontakten, die über die Mauer zu uns kommen.“
Professor Peter Welten wird mit seinem Seminar zurückkehren, außerdem stehen für die nächsten Wochen Besuche bei inhaftierten Frauen in Plötzensee und im Jugendstrafvollzug auf dem Seminarplan. „Was wir in Tegel erlebt haben, ist phantastisch“, resümiert Welten, „wir konnten ohne jedes Wachpersonal mit den Gefangenen zusammensitzen.“ Und das trotz erheblicher „Fluchtgefahr“: „Wen Jesus befreit, der ist wirklich frei“, verheißt eine Inschrift an der Kirchenwand. Holger Wicht
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