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Ein Dorf und sein Restrisiko

Die bundesweit größte Klinik für psychisch kranke Straftäter im westfälischen Eickelborn ist überfüllt. Bürgerproteste im ganzen Land sorgen dafür, daß es so bleibt  ■ Von Andrea Böhm

Die Füße stecken in Hausschuhen. Das dämpft die Schritte zwischen Zimmer und Küche, Flur und Aufenthaltsraum. Das Gesicht ist blaß, die Haut teigig. Der Anstaltsmief hat sich darin eingegraben. Doch seine Miene verliert nie jene Spur irritierter Wachsamkeit von jemandem, der die Kontrolle über sein Leben verloren hat und klug genug ist, das zu wissen. Harald Lehnert* hat einen Menschen getötet. „Meine Intimpartnerin“. Ein, zwei Sätze kann er bei jedem Anlauf über die Tat sagen. Über den inneren Kampf, „Verantwortung für die Tat zu übernehmen“, preßt er noch schnell ein paar Worte heraus. Über die Therapiegespräche. Dann beginnen die Mundwinkel zu zittern, geht die Beherrschung verloren.

Nicht für schuldig und gefährlich, sondern für krank und gefährlich haben ihn die Richter befunden. Statt im Gefängnis sitzt Lehnert jetzt im Maßregelvollzug – genauer gesagt: In Haus 3 des „Westfälischen Zentrums für Forensische Psychiatrie“ (WZFP) in Eickelborn. Als er im Gerichtssaal zum ersten Mal das Wort Psychiatrie hörte, da habe er gedacht: „Mensch, jetzt kommste nie wieder hoch.“ Es gibt kein festes Datum, zu dem er entlassen wird. Er ist eingeschlossener Patient, nicht eingeschlossener Gefangener, soll behandelt, nicht bestraft werden, um – so steht es im Maßregelvollzugsgesetz – nach erfolgreicher Therapie wieder in die Gesellschaft aufgenommen zu werden. Bloß wird deren Aufnahmebereitschaft zunehmend geringer. Da wären wohl viele froh, sagt Lehnert, „wenn sie solche Leute wie früher nach Australien schicken könnten.“ Leute wie ihn und 350 andere Patienten in Eickelborn.

Es ist was los in Deutschland: Mit Menschenketten, Petitionen, Demonstrationen und Protestversammlungen verhindern Bürger in Marl, Dorsten und Herten den Neubau einer forensischen Klinik zur dringend nötigen Entlastung von Eickelborn, wo statt der empfohlenen 70 Patienten 350 Straftäter untergebracht sind. In Düren bei Aachen verüben Unbekannte einen Brandanschlag auf ein Haus, in das Freigänger aus der forensischen Abteilung der Dürener Psychiatrie einziehen sollten. An Mahnwachen vor dem Haus haben sich bislang über 1.000 Leute beteiligt. Mütter und Väter, in einem Arm das Kind, im anderen ein Schild mit der Aufschrift: „Keine Straftäter“.

„Bei vielen Bürgern feiert der Egoismus fröhliche Urständ“, sagt Ferdinand Esser, Direktor des Landschaftverbands Rheinland, der als kommunale Dachorganisation unter anderem für die Dürener Klinik zuständig ist. „Da kippt was“, sagt Hans Bargfrede, Leiter des Nachsorgebereichs in Eickelborn. Seine Aufgabe ist es, den Übergang von der Klinik in die Freiheit zu organisieren, Patienten in der Bewährungsphase zu kontrollieren, Wohnung, Arbeit und ambulante psychotherapeutische Betreuung zu vermitteln. Was er und seine Mitarbeiter in den letzten Jahren an versorgenden und sichernden Netzen gewoben haben, kann sich sehen lassen. Jetzt sieht er seine Arbeit gefährdet. Nicht nur, weil die Toleranz für entlassene Straftäter aus der Forensik immer schneller sinkt. Auch weil Ärzte, Richter und Therapeuten restriktiver mit den Lockerungen für Straftäter im Maßregelvollzug umgehen – aus Angst, Fehler zu machen. „Es ist gefährlich, die Wiedereingliederung zu früh zu beginnen“, sagt Bargfrede. „Es ist aber auch gefährlich, zu spät damit anzufangen.“

Betreute Wohngruppen sind in Eickelborn aufgrund von Bürgerprotesten ohnehin nicht mehr möglich. Daß er, der Verfechter des Grundsatzes der Resozialisierung und der „Sicherheit durch Therapie“, nun plötzlich mit Protestformen konfrontiert wird, die „ich aus meiner eigenen politischen Biographie kenne“, findet der gelernte Soziologe „irgendwie charmant“. Doch merkt man bei allem Sarkasmus seine Wut auf die neuen Gegner in den Bürgerinitiativen, deren Aktivitäten vor dem Hintergrund des „Fall Dutroux“ in Belgien und der jüngsten Sexualmorde an Kindern in Deutschland seine Arbeit in Frage stellen. Helfen, so glaubt er, können jetzt nur noch „Gallionsfiguren in der Politik, die sich für den Maßregelvollzug stark machen“.

Es wäre schwierig genug, wenn die Sache so einfach wäre. Ist sie aber nicht. Nirgendwo wird das deutlicher als in Eickelborn.

Klaus und Maria Eberth haben gerade ihr Haus verkauft. Unter Wert, denn der Ort mit seinen 2.100 Einwohnern ist nicht gerade eine begehrte Adresse in Nordrhein-Westfalen. Schon gar nicht seit dem 22. September 1994, als der 26 jährige Dirk S., Patient im „Westfälischen Zentrum für Forensische Psychiatrie“, bei einem unbegleiteten Freigang die siebenjährige Anna-Maria auf ihrem Weg zum Tennisplatz abfing, sie vergewaltigte und mit einem Stilett erstach. „Leider mußte ich sie taubstumm machen“, schrieb er nach der Rückkehr in die Klinik in sein Tagebuch, aus dem später hervorgehen sollte, daß S. das Mädchen schon länger beobachtet hatte.

Anna-Maria war die Tochter von Klaus und Maria Eberth. Die Tat geschah 200 Meter von ihrem Haus entfernt. Jetzt bauen sie neu in einem Dorf kaum zehn Kilometer von Eickelborn entfernt. Denn sie braucht etwas Greifbares für einen „Neuanfang ohne Anna“. Er würde bleiben, „wenn die Sicherheit gewährleistet“ wäre. Doch das ist sie in seinen Augen nicht. Und die beiden anderen Kinder, Julian, sieben, und Leonie, vier Jahre alt, will der EDV-Berater diesem Risiko nicht mehr aussetzen.

Die Eberths sind auf denkbar brutale Weise zu Experten des Maßregelvollzugs geworden. Sie wissen nun, daß der Gesetzgeber 1969 das Gebot des Schutzes der Allgemeinheit vor psychisch kranken Straftätern mit dem Gebot zu deren Behandlung zumindest gleichgestellt hat. Sie haben es schriftlich, daß diese Rechtslage „insbesondere der in der Umgebung einer solchen Einrichtung lebenden Bevölkerung ein erhebliches Risiko aufbürdet, da sie die zumeist schweren Folgen einer fehlgeschlagenen Prognoseentscheidung zu tragen hat“. Das steht in der Begründung, mit der die Staatsanwaltschaft die Klage der Eberths gegen die Klinikleitung abgelehnt hat. Darin steht auch, daß eben dieses Risiko des Fehlschlags nicht den Psychiatern aufzuerlegen sei, die die Prognoseentscheidungen treffen.

„Ich will keinen Psychiater zu 100prozentiger Sicherheit verdonnern“, sagt Maria Eberth. „Aber diese Anhäufung von handwerklichen Fehlern, mit der man entschieden hat, dem Mörder unserer Tochter Freigang zu gewähren, darf nicht sein. Ich will ein Höchstmaß an Sicherheit.“ Vor allem will sie eine Erklärung der Klinik, warum Dirk S., der 1987 nach einer Attacke mit einem Teppichmesser auf ein 12jähriges Mädchen eingewiesen worden war, ein Stilett mit sich herumtragen konnte. Warum der renommierte Forensik-Professor Norbert Leygraf in einer Untersuchung nach dem Mord an Anna-Maria empfahl, fast die Hälfte aller in Eickelborn gewährten Vollzugslockerungen für Patienten zurückzunehmen, die wegen Tötungsdelikten mit sexuellem Hintergrund eingewiesen worden sind. Warum das Forensische Zentrum in ihrem Dorf zum größten im ganzen Land werden konnte, während gleichzeitig die Gelder seit 1992 eingefroren sind. „An dem Tag, als unsere Tochter ermordet wurde“, sagt Klaus Eberth, „hatten 60 Gewalttäter Freigang in Eickelborn.“

Nichts schien nach dem Mord an Anna-Maria dringender, als die Eickelborner Klinik zu verkleinern. Von Schließen war nie die Rede – am wenigsten unter den Dorfbewohnern selbst. Nicht zuletzt, weil die Klinik mit der allgemeinen und forensischen Psychiatrie den größten Arbeitgeber stellt. Eine neue Klinik sollte gebaut werden. Marl, Dorsten und Herten waren im Gespräch. Doch wo immer die Nachricht von der geplanten Ankunft der „Triebtäter“ eintraf, schoß eine klassen- und parteienübergreifende Protestbewegung aus dem Boden. In einer dieser Bürgerversammlungen saß an einem Abend Maria Eberth – auf den ersten Blick die ideale Kronzeugin für den Kampf gegen die Klinik. Auf dem Podium und im Publikum wallten die Emotionen, und irgendwann kriegte die 41jährige Realschullehrerin „so einen Hals.“ Sie stand auf, ging ans Mikro, nannte ihren Namen, den jeder kannte, und erklärte: „Ihr habt kein Recht, uns mit dieser gesellschaftlichen Verantwortung allein zu lassen. Eickelborn braucht eine Entlastung.“ Im Saal wurde es still.

Nur genutzt hat es nichts: Am Ende kapitulierte die Düsseldorfer Landesregierung vor den Protesten im wählerreichen Ruhrgebiet, obwohl SPD-Gesundheitsminister Horstmann prophezeit hatte: „Wenn wir hier nachgeben, können wir nirgends mehr eine Gewalttätertherapie durchsetzen.“

Die Eberths nehmen mit Staunen zur Kenntnis, daß sie nun in eine Doppelrolle gerutscht sind: Zum einen erbitterte Kritiker der Praxis im Maßregelvollzug, zum anderen dessen entschiedene Befürworter. Sie berichten angewidert von der unerwünschten Unterstützerpost, die mit den Worten „Deutschland-muß-wieder-sauber-werden“ endet. Sie registrieren erschrocken, wie viele Freunde und Bekannte, bislang progressiv und liberal, plötzlich alle Sexualstraftäter lebenslang wegschließen wollen. Oder wie viele Landsleute bei Sexualmorden an Kindern nicht mehr nach dem Therapeuten, sondern nach dem Henker rufen: 60 Prozent aller Deutschen, meldet das Allensbach-Institut. „Wir“, sagt Maria Eberth, „stehen dann da und reden gegen Todesstrafe und Zwangskastration und für das Recht auf Behandlung.“ Und dann wieder gegen die andere Seite: Gegen Therapeuten, die „dem Wahn anhängen“, sie könnten jeden Gewalttäter heilen.

Die Grenzen der forensischen Psychiatrie klar zu machen, ist auch nach Ansicht des Aachener Psychoanalytikers Micha Hilgers eine wichtige Voraussetzung, um die Akzeptanz für den Maßregelvollzug wieder aufzubessern. Hilgers beklagt zudem chaotische Kriterienkataloge, an denen sich Gutachter „nach Gusto orientieren“; fehlende Behandlungskonzepte, mangelhafte Ausbildungskapazitäten.

„Deutschland ist auf dem Gebiet der Forensik eine Diaspora“. Daß die politische und finanzielle Lage derzeit kaum Spielraum bietet, sieht auch er. „Doch mit den wenigen Mitteln kann man bessere Arbeit machen.“ Wo Hans Bargfrede auf „Gallionsfiguren aus der Politik“ hofft, verlangt Hilgers mehr Transparenz. „Man muß erst mal klare Behandlungskonzepte erarbeiten, die bislang meist fehlen. Damit muß man dann an die Öffentlichkeit gehen.“

Harald Lehnert sitzt in Haus 3, starrt auf seine Hausschuhe und rechnet weder mit couragierten Politikern noch mit einer diskussionswilligen Bevölkerung. Manchmal träumt er davon, auf dem Mond zu landen. „Und das erste, was ich da sehe, ist 'ne Bürgerinitiative.“

* Name von der Red. geändert

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