: Die Geburtsstunde des Selbsthilfegedankens
■ Friedrich Wilhelm Raiffeisen gilt als einer der Väter der Genossenschaftsidee. Vor 150 Jahren gründete er den „Verein für Selbstbeschaffung von Brod und Früchten“
„Man nennt die Vereine nach meinem Namen. Ich habe dieselben nicht erfunden, nur die Patenstelle dabei übernommen.“ Ein Mann des Understatements, der diese Worte sprach: Friedrich Wilhelm Raiffeisen, einer der Väter des heutigen Genossenschaftswesens. Denn vor 150 Jahren, im Hungerwinter 1846/47, gründete er den „Verein für Selbstbeschaffung von Brod und Früchten“.
Seinerzeit stand er als wenig erfahrener Bürgermeister „vor einer schweren Bewährungsprobe“, wissen Chronisten über den kaum 20jährigen zu berichten. Aus den königlichen Magazinen erhielt sein Bezirk Weyerbusch zwar eine Ladung Mehl zur Linderung der größten Not. Weil aber Mehl nur gegen Bezahlung abgegeben werden durfte, waren gerade die Ärmsten von dessen Bezug ausgenommen. Raiffeisen jedoch gab mittellosen Dorfbewohnern Mehl auf Vorschuß und ließ ein Backhaus bauen. Gemeinsam mit anderen Bürgern bildete er eine Armenkommission, kaufte mit einer Anleihe der Wohlhabenden Getreide und konnte so Hungernde mit Brot versorgen, das nur halb so teuer war wie das auf dem Markt. Die Hungersnot war gebannt.
Da die Ernte des folgenden Jahres ebenfalls nicht gesichert war, plünderte die Armenkommission vorläufig die Gemeindekasse, um Saatgut zu kaufen: Wäre die neue Ernte erst eingebracht, könnten die Bauern das Gemeindegeld zurückzahlen. Der Plan ging auf, ein Kreislauf begann sich in Bewegung zu setzen. Der „Weyerbuscher Brodverein“ gilt als Vorläufer der Genossenschaften.
Seine Vorgesetzten waren wenig begeistert: Raiffeisen wurde in den etwas größeren Nachbarort Flammersfeld versetzt, wo die Zustände allerdings denen in Weyerbusch ähnelten. Mißernten ließen Mensch und Tier hungern, eine Notlage, die von Händlern und Geldverleihern weidlich genutzt wurde. 1849 gründeten wohlhabende Bürger den „Flammersfelder Hülfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte“. Die neue Organisation kaufte Vieh, das sie notleidenden Bauern gegen langfristige Tilgung des Kaufpreises überließ. Später dann konnten die Landwirte gegen Barkredite des Vereins selbst Tiere erwerben, bald auch Gebäude, Grundstücke und Gerätschaften.
Nach einer nochmaligen Versetzung und baldiger Pensionierung – Raiffeisen war, inzwischen 47jährig, nahezu erblindet – begann er mit Hilfe seiner Tochter die Erkenntnisse der vergangenen Jahre niederzuschreiben als „praktische Anleitung zur Bildung solcher Vereine, gestützt auf sechzehnjährige Erfahrung, als Gründer derselben“, so der Untertitel seiner Publikation. Das Buch wurde zum Bestseller: Als Arbeitsanweisung und von Auflage zu Auflage ergänzt, fand es Abnehmer selbst in Italien. Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung – die Grundsätze jener Zeit sind noch heute genossenschaftliche Prinzipien.
Gegner gab es allerdings in den Behörden. Als Sicherheit für Kreditgeschäfte mußten Vereinsmitglieder mit ihrem gesamten Gut haften. Andere, die sich finanziell engagierten, wurden an die Genossenschaft gebunden. In beidem sahen Amtsleute „eine große Gefahr für die Menschen“, in Wahrheit wohl eher für den Staat, war der Obrigkeit doch durch diese Organisation die Kontrolle über große Mengen Kapitals entzogen.
Raiffeisen starb am 11. März 1888. Unter seinem Namen entstanden später genossenschaftliche Banken, Verlage und Versicherungen. Bundesweit waren 1996 knapp 4.700 Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften Mitglieder der Raiffeisen-Organisation. Der Umsatz dieser Betriebe überstieg im vergangenen Jahr 77 Milliarden Mark. Weltweit sind in über 100 Ländern rund 350 Millionen Menschen genossenschaftlich organisiert. Andreas Lohse
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