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Beherrschte Hektik

„Emergency Room“ ist die realitätstüchtigste Krankenhausserie. Vorabdruck aus dem zweiten, so faktensicheren wie unterhaltsamen Kultserien-Buch von  ■ Harald Keller

Krachend fliegen die Flügeltüren auf, im Eiltempo schieben Rettungssanitäter Unfallopfer durch die gleißenden Flure der Notaufnahme. Ein Rohbau ist eingestürzt, zwölf Menschen wurden verletzt, sieben davon schwer. Die mobile Kamera wechselt auf Höhe eines Patienten. Neonlampen jagen vorüber, Schwestern und Ärzte stoßen hinzu. Noch im Laufen erstatten die Sanitäter Bericht, machen atemlos Angaben zum Unfallhergang, zur Person des Patienten und zu den bereits erfolgten medizinischen Maßnahmen. Mit einer gemeinsamen Anstrengung wird der Verletzte auf eine Liege gehoben. Die Sanitäter verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind. Die Ärzte bellen knappe Anweisungen, geschäftige Assistenten und Schwestern führen sie aus. Medikationen, Diagnosen, Laborwerte schwirren durch den Raum, Defibrillatoren knallen, Beatmungsgeräte schnaufen, Vorhänge werden aufgerissen. Die Szenerie vermittelt den Eindruck beherrschter Hektik. Gefragt wird nicht, jeder Handgriff sitzt. Schließlich stabilisiert sich der Zustand des Patienten, und er kann an die zuständige Fachabteilung der Klinik weitergereicht werden.

Der „Emergency Room“ ist die Unfallstation des Chicagoer County General Hospital und für die meisten Patienten nur eine Durchgangsstation. Nach der Erstversorgung werden sie entlassen oder aber in die für sie zuständige Abteilung der Klinik eingewiesen. Der Pilotfilm zu „Emergency Room“ zeigt das Team dieser Station in einem Zeitraum von 24 Stunden. Dr. Mark Greene hat Bereitschaft, und sein Arbeitstag beginnt früh um fünf. Er wird von seiner Pritsche im Abstellraum gescheucht, um einen sturzbetrunkenen Kollegen zu versorgen. „Läßt der sich immer so gehen?“ will eine der Schwestern wissen. „Nur wenn er frei hat“, lautet Greenes trockene Antwort.

Der Neue in diesem Tollhaus heißt John Carter. Er ist ein Medizinstudent im dritten Jahr, der hier seine praktische Ausbildung absolvieren wird. Eine flüchtige Einweisung durch seinen Betreuer Dr. Benton, und schon ist er in den Arbeitsablauf eingebunden, obwohl er nur in der Dermatologie und Psychiatrie hospitiert hat und keine Erfahrungen auf dem Gebiet der Notfallmedizin mitbringt.

Zusammen mit Carter sammeln die Zuschauer des Pilotfilms „Der erste Tag“ eine Vielzahl verwirrender Eindrücke vom Stationsalltag. Viele Schicksale werden nur gestreift, Motive flüchtig hingetupft, Fundamente für den späteren Handlungsaufbau gelegt. Das Skript zu dieser zweistündigen Einzelfolge wie auch die Idee zu der Serie stammen von dem Autor und Regisseur Michael Crichton. Bereits 1974 hatte er einen Entwurf verfaßt für einen Kino- oder Fernsehfilm, in den er Erfahrungen aus der Zeit seines Medizinstudiums einbringen wollte. Kein melodramatisches Wunderheilerepos sollte es werden, sondern ein an der Realität orientiertes Drama mit gleichsam dokumentarischem Charakter. Erst nachdem sich der als Regisseur mit Filmen wie „Coma“ (USA 1978) oder „Runaway – Spinnen des Todes“ (USA 1984) selbst nur mäßig erfolgreiche Crichton mit Romantiteln wie „Dino Park“, „Nippon Connection“ und „Enthüllung“ einen Namen als Bestsellerautor und Vorlagenlieferant gemacht hatte und zudem Steven Spielberg als Partner gewinnen konnte, fand sich ein Abnehmer für dieses Projekt.

„Emergency Room“ hatte im September 1994 Premiere und verbuchte einen der erfolgreichsten Serienstarts der TV-Geschichte. Auch künstlerische Ehrungen blieben nicht aus: Bereits die erste Staffel wurde für 23 Emmys nominiert und achtmal ausgezeichnet.

Diese Anerkennung galt einer Serie, die in mancher Hinsicht gegen althergebrachte Konventionen verstieß. Mit dem Pilotfilm hatte Crichton seine ursprüngliche Idee verwirklicht und anstelle der herkömmlichen Handlungsstruktur ein Patchwork kleiner Szenen und Momentaufnahmen geschaffen, das ein wirklichkeitsgetreues Bild von der Arbeit auf einer Unfallstation vermittelte. Die Stammautoren übernahmen Crichtons Schema: „Emergency Room“ ist gekennzeichnet durch enorme Handlungsdichte, rasche Szenenwechsel, dynamische Kameraführung, knappe Charakterisierungen. Erst im weiteren Verlauf gewinnen die wiederkehrenden Figuren an Profil. Während ihre Patienten häufig wechseln und zumeist nur Nebenrollen einnehmen, werden die Ärzte dem Publikum immer vertrauter. Nach und nach treten Charakterschwächen, Abneigungen, Vorlieben zutage, das Private wird erschlossen, Probleme kommen ins Spiel.

Der aufreibende Beruf beeinflußt alle Lebensbereiche der Mediziner, namentlich ihre Beziehungen zu Verwandten und Lebenspartnern. Auf die Frage eines Patienten, ob sie verheiratet sei, antwortet Dr. Lewis: „Nein, ich bin Ärztin.“ Für ein karges Bruttogehalt von 23.739 Dollar im Jahr arbeiten die Ärzte 90 Stunden pro Woche, 52 Wochen im Jahr. Diese totale Beanspruchung bleibt nicht ohne Folgen: Greenes Ehe zerbricht, der ehrgeizige Benton überwirft sich mit seiner Familie, Oberschwester Hathaway unternimmt einen Selbstmordversuch.

Bei aller Dramatik und persönlicher Tragik gibt es immer wieder auch versöhnliche Szenen und solche herzlich makabren Humors. Am Schluß der Episode „Der Tierfreund“ hocken Carter und eine Kollegin in der Stammkneipe eines verstorbenen Patienten, plazieren dessen in Formaldehyd eingelegte Trinkerleber auf der Theke und trinken ein Bier auf das Wohl des Verstorbenen. In einer anderen Folge veranlaßt Schwester Hathaway Erste-Hilfe-Maßnahmen für ein Faß voller erfrorener Würmer. Auch referentielle Scherze lassen sich ausmachen: In der Episode „Die verlorenen Kinder“ zappt Mark Greene durch das Fernsehprogramm, erwischt eine Folge der alten Arztserie „Dr. med. Marcus Welby“ (USA 1969–1976), sieht für einen Moment staunend zu – und lacht dann einmal kurz und höhnisch auf.

Harald Keller: „Kultserien und ihre Stars – Forsetzung folgt“. Bertz Verlag Berlin, 160 S., ca. 150 Abb., 28 DM

Am 2.9. startet auf Pro 7 eine neue Staffel von „Emergency Room“

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