: Nützliche Bazillen
■ Weil ein Angeklagter an Tuberkulose erkrankte, ist der Prozeß gegen vietnamesische Zigarettenmafia vorerst geplatzt
Berlin (taz) – Die Angeklagten saßen hinter Panzerglas, im Saal im Berliner Landgericht herrschte erhöhte Sicherheitsstufe – gegen alle Risiken schien der bisher wohl größte Prozeß der Nachkriegsgeschichte gegen eine Gangstergruppe gewappnet – nur gegen diese winzigen Angreifer war er nicht gefeit: Unsichtbare Tuberkel-Bazillen haben das Berliner Mammutverfahren gegen die vietnamesische Zigarettenmafia gestern zum Platzen gebracht.
Weil einer der insgesamt sechzehn Angeklagten an einer aktiven Tuberkulose erkrankt ist und seine Mitangeklagten im Gerichtssaal angesteckt haben könnte, wurde der Prozeß gestern auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Nach Ablauf der Inkubationszeit für Tbc und einer Untersuchung der Angeklagten muß der mit Spannung erwartete Prozeß dann neu aufgerollt werden.
Den fünfzehn Männern und der einen Frau auf der Angeklagebank wird eine ganze Serie von Morden an abtrünnigen und rivalisierenden Bandenmitgliedern zur Last gelegt. Bis zu ihrer Festnahme vor einem Jahr sollen sie Hauptakteure in einem blutigen Bandenkrieg um die Vorherrschaft auf dem illegalen Zigarettenmarkt gewesen sein. Höhepunkt der Gewaltspirale war ein Überfall auf eine Wohnung im Berliner Bezirk Marzahn im Mai 1996. Dabei wurden sechs Landsleute mit Kopfschüssen getötet.
Schon am ersten Prozeßtag vor drei Wochen war deutlich geworden, daß das Gericht diesem ungewöhnlichen Mammutverfahren kaum gewachsen ist. Verfahrensrügen und Befangenheitsanträge der insgesamt zweiunddreißig Verteidiger sorgten dafür, daß es bisher nicht einmal zur Verlesung der Anklageschrift kam. Die Anwälte monierten die Sitzordnung der Angeklagten hinter Panzerglas, die Art der Übersetzung, die nicht auf regionale Dialekte eingehe, und die Plazierung der vietnamesischen Kronzeugin des Verfahrens direkt vor der Richterbank, die es den übrigen Prozeßbeteiligten nicht gestatte, ihre Mimik zu beobachten.
Dann ließ die Tbc-Erkrankung eines der Angeklagten das Verfahren aus dem Ruder laufen. Ohne Benachrichtigung der Verteidiger trennte der Gerichtsvorsitzende das Verfahren gegen den Erkrankten ab. Doch der, so attestierte daraufhin ein ärztliches Gutachten, könne – wenn auch mit geringer Wahrscheinlichkeit – seine Mitangeklagten bereits angesteckt haben. Ironie der Justizwirklichkeit: In der Untersuchungshaft sind die sechzehn mutmaßlichen Bandenmitglieder streng voneinander isoliert, in den Verhandlungspausen wurden sie sogar einzeln, jeweils nacheinander zum Mittagessen geführt, um jede Kontaktmöglichkeit auszuschließen. Nur im Gerichtssaal saßen sie hinter Panzerglas so dichtgedrängt nebeneinander, daß nicht nur heimliche Absprachen möglich waren, sondern eben auch die Wanderung der winzigen Bazillen, die den Prozeß nun zum Platzen brachten. Vera Gaserow
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