: Teddys, Tanten und Tränen
Oder: Wie die Backstreet Boys bei ihren Konzerten die Generationen vereinen und sich dabei vor fliegenden Kuscheltieren fürchten müssen ■ Aus Berlin Andrea Böhm
Meine Nichte ist zehn Jahre alt geworden und hat von mir zum Geburtstag eine Karte zum Konzert der Backstreet Boys bekommen. Solche Geschenke fallen in meine Zuständigkeit. Denn das Anhimmeln von Popstars signalisiert einen Abnabelungsprozeß, den Eltern naturgemäß skeptisch beobachten. Tanten wiederum bietet er die hervorragende Gelegenheit, sich die begehrteste aller Auszeichnungen zu verdienen: cool. Leise Einwände meiner inneren Stimme („Mit zehn schon auf ein Popkonzert? Du durftest doch selbst erst mit vierzehn...“) waren deshalb schnell erstickt.
Wir nähern uns dem Großereignis in der U-Bahn Richtung Open- air-Bühne. Ein erster Blick durch den überfüllten Waggon zeigt: Hier findet eine Wallfahrt von Grundschülern mit Elternbegleitung statt. Aus übergroßen Shorts ragen spargeldünne Kinderbeine, deren Füße wiederum in übergroßen Turnschuhen verschwinden. Mütter haben Rucksäcke und Taschen mit Keksen, Wurstbroten und Safttüten gepackt. Siebenjährige haben sich die Arme mit den Namen und Logos ihrer Idole A.J., Howie, Kevin, B-Rok und Nick beklebt. Ein dicker Junge hält ein selbstgemaltes Schild mit der Aufschrift „I love You, Howie“. Das T-Shirt seines Vaters ist mit einer üppigen nackten Frauenbrust bedruckt. Offenbar möchte er kundtun, daß wenigstens einer in der Familie ein ganzer Kerl ist. „Jungen“, sagt meine Nichte, „stehen eigentlich nicht auf die Backstreet Boys. Die gehen lieber zu Blümchen.“ Das findet sie doof, denn Blümchen – in der Zeitschrift Bravo als Raverin ausgewiesen – „ist ein Girlie und macht Kindergartenmusik“.
Wir aber drängeln uns heute zum Konzert für das reifere Publikum. Vierzehnjährige haben sich ihre Haare zu bunten Zöpfchen geflochten. Viele sind in Begleitung ihrer Mütter. Auch diese tragen Backstreet-Boys-T-Shirts und haben jenen aufgeregten wie entrückten Blick im Gesicht. Von Ablösungsprozessen keine Spur. Die Nabelschnur zwischen beiden Generationen ist vollkommen intakt. Inmitten dieser hochgerüsteten Fangemeinde komme ich mir vor wie eine Touristin in Badelatschen auf dem Weg zur Zugspitze. Weder habe ich ein Backstreet-Boys-Sitzkissen noch eine Backstreet-Boys-Fahne oder ein Kuscheltier, wie es zahlreiche Konzertbesucher im Arm halten.
Unten, in einem Halbkreis vor der Bühne, sitzen seit mehreren Stunden etwa 2.000 fast ausschließlich weibliche Teenager in der knallenden Sonne und fiebern mit ersten kurzen Quietschausbrüchen dem Beginn der Show entgegen. Sie werden gleich ein medizinisches Experiment mit absehbarem Ausgang an sich selbst durchführen: Wie reagiert ein 12- bis 16jähriger dehydrierter Körper, der nach langem Sitzen bei 30 Grad Hitze plötzlich in die Vertikale befördert wird und durch Kreischen und Hyperventilation ein Übermaß an Sauerstoff erhält? Antwort: Er fällt in Ohnmacht.
Während ich immer kleinere Fans ausmache, die von einem Ordner – sicher ist sicher – vor Konzertbeginn noch einmal im Gänsemarsch zur Toilette geführt werden, entdeckt meine Nichte immer ältere Zuschauer. Was die Frage aufwirft, welcher Teil der Gesellschaft hier wohl verrückt spielt: die Kinder, die nicht schnell genug in die Pubertät kommen können, oder die Alten, die nicht herauszukommen scheinen. „Kuck mal“, sagt sie etwas hörbar indigniert, „da sind Erwachsene mit Tamagotchis!“ Ich habe keine Ahnung, wie Tamagotchis aussehen. „Na, das sind so kleine Plastikdinger mit 'nem Bildschirm. Die sind wie Haustiere. Man muß sie füttern und streicheln, und kacken können sie auch.“
„Wie bitte?“
„Da kommen lauter Häufchen auf den Bildschirm, und dann muß man spülen.“ Noch bevor ich länger darüber nachdenken kann, ob dies ein kurzlebiger Gag der Spielzeugindustrie oder ein Warnsignal für den bevorstehenden Untergang einer dekadenten Gesellschaft ist, zischt ein rosa Hase an meiner linken Backe vorbei. Das „tolle Berliner Publikum“ leistet der Aufforderung Folge, alle Geschenke an die Backstreet Boys schon vor Konzertbeginn auf die Bühne zu werfen, „denn beim letzten Mal ist einer der Jungs auf ein Stofftier getreten und hat sich am Knöchel verletzt. Und das wollt ihr doch nicht...“ Jetzt hagelt es von allen Reihen und aus allen Ecken Kuschelbären, Kuschelkätzchen, Kuschelfrösche, Kuschellöwen, Kuschelschweinchen, Kuschelsaurier. Manche kollidieren auf ihrem Flug unfreiwillig mit Bier- und Cola-Bechern, werden kurz trockengeschüttelt und weiter Richtung Bühne befördert. Die Ordner fegen die fliegende Fanpost mit Besen von der Bühne in blaue Müllsäcke.
Vielleicht ist das Fortschritt. Früher mußte man um seine Musikidole fürchten, weil sie sich jederzeit eine Überdosis Heroin setzen konnten. Heute hat man Angst, daß sie über ein Schmusetier stolpern.
Meine Nichte ist in A.J. von den Backstreet Boys verliebt. Aber nicht so doll, daß sie dafür eines ihrer Stofftiere in den Berliner Abendhimmel schleudern würde. Beim Anblick von A.J. zu kreischen findet sie vertretbar. In Ohnmacht zu fallen geht ihr zu weit. Sie schmilzt bei Backstreet-Boys- Songs wie „I'll Never Break Your Heart“ dahin, kann aber ebenso selbstverständlich alle Texte von Tic Tac Toe auswendig. „Das geht mir auf'n Sack, das geht mir auf'n Sack – auch wenn ich gar kein' hab...“ rappt sie – am liebsten mit ihrer siebenjährigen Schwester im Duett.
Wie eine Gummihaut surrt die Menschenmenge direkt vor der Bühne nun zu einem dichten Meer von Köpfen zusammen, quetscht die vorderste Reihe gegen die Gittersperren. Die ersten Mädchen werden ohnmächtig, als sich noch zwei Vorgruppen auf der Bühne abmühen. Dann kommt endlich die Tante auf ihre Kosten, denn als dritte Vorgruppe tritt „Nana“, eine leicht zum Pathetischen neigende HipHop-Band, auf. Ich klatsche und pfeife und johle, was meine Nichte mit Wohlwollen registriert. Vielleicht hatte sie befürchtet, ich würde den ganzen Abend dasitzen und dumme Bemerkungen über Jugendkultur machen.
Plötzlich springt ein blonder Bengel mit knallgelben Latzhosen auf die Bühne. Für den Traum aller Schwiegermütter eindeutig zu jung, für den Traum aller Großmütter gerade richtig. Er sieht aus, als hätte er gerade seinen Schulranzen in die Ecke geworfen. Die Menge beginnt hysterisch zu kreischen. Ich bekomme einen kleinen Schlag auf den Kopf. Hinter mir sitzt, schrille Laute ausstoßend, ein sechsjähriges Mädchen mit einem fluoreszierenden Stab in der Hand, auf den eine kleine weiße Faust mit ausgestrecktem „Fuck-you“-Mittelfinger montiert ist. Den schwenkt sie wie wild – und an diesem Abend vorzugsweise gegen mich. Daneben wippt ihre Mutter aufgeregt hin und her – die Augen fest an ihre Fernglas gepreßt. „Det is Aaron, der Kleene.“
„Aaron ist der Bruder von Nick von den Backstreet Boys“, erklärt meine Nichte und klatscht wie wild, obwohl sie Aaron eigentlich „ein bißchen zu jung“ findet. Aaron ist neun Jahre alt, hüpft wie ein Rapper auf der Bühne herum und hat eine eigene Single herausgebracht. Die singt er auf jedem Konzert dieser Deutschland-Tournee, bevor sein Bruder mit den Großen auf die Bühne kommt. Zum Abschied sagt er auf deutsch: „Ich liebe euch alle.“ Die Menge kreischt wieder. Vor größeren Menschenmengen hat sich bislang nur Erich Mielke diesen Satz zu sagen getraut – und der konnte nicht tanzen.
Dann kommen sie endlich auf die Bühne – und meine Nichte wird Teil des Rituals der erhobenen Hände und wippenden Körper. Zwei Reihen vor ihr schunkelt der versammelte „Backstreet Boys Fanclub Teltow-Fläming, 1. Hauptsitz Saarow“. Alles gestandene Herren Mitte Zwanzig, die ohne Furcht vor dem Live-Auftritt der Traumjungen aus Florida mit ihren Freundinnen erschienen sind.
Es soll Eltern geben, die ob des Boygroup-Wahns ihrer Kinder Psychiater zu Rate ziehen. Die hier versammelten Väter und Mütter aber gehören mit zur Bewegung. Zusammen mit den Töchtern halten sie Wunderkerzen, Feuerzeuge, Taschenlampen und Leuchtstäbe in den Berliner Himmel, als die fünf Zuckerbuben in weißem Satin und mit blanker Brust hintereinander ihre Solo- Schmusenummern präsentieren. Unten an der Bühne leisten Ordner und Sanitäter Schwerstarbeit. Von ihren Kollegen lassen sie sich hochhieven, um ohnmächtige Mädchen aus den hinteren Reihen zu zerren. Im Laufschritt werden die Leblosen in Erste-Hilfe-Zelte geschleppt. Die Boys singen „I'll Never Break Your Heart“ und „Get Down“. Meine Nichte singt mit. Ich stelle fest, daß sie mit zehn Jahren mehr Englisch kann als ich mit vierzehn.
Auf dem Rückweg in der U-Bahn werden schlafende Kinder auf väterliche Schultern gewuchtet, während Mütter ihre geschwollenen Füße aus den Sandalen befreien. Halbwüchsige Pärchen mit Nasenringen dösen Kopf an Kopf. Meine Nichte hat sich ein T-Shirt der Backstreet Boys gekauft, das sie morgen in die Schule anziehen wird.
Sie ist die einzige aus ihrer Klasse, die im Konzert war. Ihre Freundinnen werden ihr morgen zu Füßen liegen. Die Welt ist schön. Die Welt ist gut. Und wenn A.J. plötzlich eine feste Freundin hätte, „dann wär' das auch nicht so schlimm“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen