: Keine taktische Panne, sondern eine persönliche Beleidigung
■ Henning Voscherau, der Freund des „kleinen Mannes“, galt den Intellektuellen der Stadt längst als Fortschrittsfeind
„Läßt man das Land weiter schliddern, fährt der Karren in den Dreck.“ Nun ist der Fuhrmann vom Bock gehüpft. Henning Voscherau (56) läßt seine Vaterstadt Hamburg sehenden Auges in den rot-grünen Sumpf rollen. Und auch die Bundes-SPD wird sich einen neuen Finanzkoordinator suchen müssen. Voscherau sagte gestern vor einer Sitzung der SPD- Spitzengremien in Bonn, ohne sein Amt als Hamburger Bürgermeister könne er wohl kaum Chefunterhändler für die Steuer- und Rentengespräche mit Waigel und Schäuble bleiben.
Voscheraus Drohung, er wolle „klare Verhältnisse“, die WählerInnen müßten sonst selbst auslöffeln, was sie sich eingebrockt hätten, war keine Taktik, sondern tiefste innere Überzeugung eines widersprüchlichen und einsamen Mannes, der die preußisch-autoritären Werte der Wiederaufbaugeneration wie kein anderer Sozialdemokrat der heutigen Führungsriege verinnerlicht hat. Die Wahlschlappe empfindet er nicht als eine taktische Panne, sondern als persönliche Beleidigung. Schon vor seinem Amtsantritt 1988 hatte er gemahnt: „Ich ziehe den Karren, wenn der Karren es will.“ Jetzt aber will dieser Karren nicht mehr in Voscheraus Richtung.
Voscheraus Kalkül, mit rechten Parolen CDU und DVU klein zu halten, ist nicht aufgegangen. Seine Parolen aber waren weit weniger Berechnung denn echte Überzeugung. Voscheraus Antwort auf die ökonomische Krise, den Zerfall der sozialdemokratischen Milieus und den Wertewandel der Gesellschaft lautete: „Mut, Schweiß und Tränen“, „mehr Leistung, mehr Führung“ brauche es. Sein Haß galt dagegen dem „Anspruchsdenken“. Und über das Motto der Willy-Brandt-Ära „Mehr Demokratie wagen“ höhnte er nur: „Das haben wir eine Generation lang versucht.“
Bestätigung fand er im direkten Kontakt mit aufgebrachten Kleinbürgern in alten Arbeitervierteln. Der berüchtigte „kleine Mann“ prägte sein politisches Koordinatensystem. Großen Teilen der intellektuellen Elite der Stadt – von der Architektenkammer über die Hochschulen bis hin zu modernen Dienstleistungsunternehmen – galt Voscherau dagegen als autoritärer Fortschrittsfeind, eine Ewiggestriger, der mit Methoden aus der Mottenkiste der sechziger Jahre Hamburg einen ganz erheblichen Reformstau aufgezwungen hat. Voscherau räumt denn auch ein: „Meine Generation in Bonn, das ist die Generation der Brandt- Enkel. Das Milieu der 68er, man könnte es sogar eine Seilschaft nennen, da gehöre ich nicht dazu.“
Auch Hamburgs Gewerkschaften, die bereits 1993 für Rot-Grün votiert hatten, waren längst auf Distanz zu dem einsamen Bürgermeister gegangen. Selbst innerhalb der eigenen Partei ist Voscherau seit langem isoliert. Die mittlerweile längst mehrheitlich rot-grüne Basis hatte den hochintelligenten Stadtchef respektiert und sich mit ihm, auch was die Postenvergabe anbelangte, arrangiert, ihn aber nie geliebt.
Manchmal allerdings ahnte Voscherau, daß er auf dem falschen Dampfer saß. „Die Grünen sind in vielem moderner als wir“, gestand er jüngst der taz. Und Politiker wie Joschka Fischer oder der Hamburger GAL-Fraktionschef Willfried Maier flößten ihm höchsten Respekt ein. Bei einer grünen Frau wie Krista Sager war es sogar noch mehr: eine Art Haßliebe. Vor Krista Sager hatte er regelrecht Angst. Es war die bange Ahnung, sie könne jemand sein, in dem das Wahlvolk weit eher die Zukunft sähe als in seiner eigenen Politik.
Und seine eigene Zukunft? Die kennt, wenn überhaupt, gegenwärtig wohl nur Voscherau selbst. Einsam wie schon in der Wahlnacht, als er ohne jede Absprache seine Parteigenossen in Bonn und Hamburg mit seinem Rücktritt, live in der ARD-Tagesschau, vor den Kopf stieß, geht er derzeit mit sich zu Rate. Seine Hamburger Genossen würden ihn jederzeit für ein Ministeramt in Bonn nominieren, und auch die Bonner SPD-Zentrale hat schon ganz dezent einen roten Teppich ausgerollt. Florian Marten, Hamburg
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