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Sehnsucht nach grauer Warterei

Solange es die Mauer gab, bestanden die Deckenlampen auf dem U-Bahnhof Friedrichstraße aus sieben oder acht sternförmig angeordneten Neonröhren, von denen mindestens eine in unregelmäßigen Abständen zündete und verlosch oder fehlte. Wenn ich als Kind kaum noch die Augen offen halten konnte und dennoch warten mußte, wanderte mein Blick bald zur Decke. Ein Spiel begann, geboren aus Müdigkeit und Langeweile um Mitternacht, ein Spiel, das während der Jahre fortgesetzt werden mußte: Wie viele Röhren brannten noch? Welcher Stern war größtenteils oder ganz erloschen?

Wohl weil ich immer wieder zur Decke starren mußte, kamen mir die weißen Röhren nach einer Weile violett vor. Die Augen brannten. Und obwohl es zunächst angenehm gewesen war, länger als sonst wach bleiben zu dürfen, schien mir das Warten auf den Zug – mehr als das Warten in der Schlange vorm Kontrollhäuschen der Vopos: dort, immerhin, geschah etwas – wie eine gerechte Strafe. Wenngleich ich die Ostverwandten gern besuchte – trotz fehlender Leuchtreklame und ekelhafter Süßigkeiten blieben die Besuche bis zum Schluß ein Abenteuer –, den U-Bahnhof fürchtete ich.

Jetzt hängen Halbkugeln in dem inzwischen gestrichenen Bahnhof. Den niedrigen Gang gibt es noch, den Fahrkartenschalter nicht mehr. Und bis auf die gelben Kacheln der Pfeiler, die die nun renovierte Decke des U-Bahnhofs abstützen sollen – einschließlich der so sahne-sanft herableuchtenden Halbkugeln, die die Sehnsucht nach grauer Warterei unter schadhaften Röhrensternen wachhalten –, ist alles anders, besser, eben nicht mehr Neon, sondern Halbkugel. Michael Wildenhain

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