: Keiner bleibt jetzt länger
■ Percy MacLean, Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht zur Grundsatzentscheidung, daß Ausländer Anrecht auf formelle Duldung haben,wenn sie nicht abgeschoben werden können
Die überschnelle Reaktion der von mir sehr geschätzten Ausländerbeauftragten Barbara John und nun auch des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen (CDU) auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, veranlaßt mich zu folgenden, klarstellenden Ausführungen:
1. Die Behauptung, das Urteil „zwinge die staatlichen Organe in Deutschland, Ausländer hier zu behalten und teuer zu versorgen“ (Senatsmitteilung vom 29. September 1997), verkennt die Sachlage völlig. Kein einziger Flüchtling erhält durch die Entscheidung ein Bleiberecht, sondern es geht ausschließlich um diejenigen, deren Ausreisepflicht wir ohnehin zur Zeit nicht vollziehen können. Denn nach Paragraph 55 Abs. 2 des Ausländergesetzes ist nur solchen Ausländern eine Duldung zu erteilen, die aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen nicht abgeschoben werden können. Allein diese eindeutige gesetzliche Regelung haben die Bundesrichter auf die Flüchtlinge aus Vietnam angewandt – solange die Abschiebung in ihre Heimat nicht absehbar ist, weil die Berliner Ausländerbehörde das Verfahren nach dem zwischen Deutschland und Vietnam geschlossenen Rückführungsabkommen noch gar nicht eingeleitet hat. Dabei ist zu berücksichtigen, daß eine Duldung kein Aufenthaltstitel ist, sondern rechtstechnisch lediglich die Aussetzung der Abschiebung bedeutet.
Der Aufenthalt des Flüchtlings bleibt also weiterhin rechtswidrig, er ist zur Ausreise verpflichtet. Lediglich die Ausländerbehörde ist zeitweise – bis die Voraussetzungen wieder vorliegen – von ihrer gesetzlichen Abschiebepflicht befreit. Bei einer ohnehin unmöglichen Abschiebung, die also aufgrund objektiver Umstände „ausgesetzt“ ist, eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
2. Bundesweit hat es mit dieser Vorschrift nie ein Problem gegeben. Nahezu sämtliche Landesinnenministerien haben mir bei zwei Umfragen 1995 und 1997 ausdrücklich mitgeteilt, daß in ihrem Verantwortungsbereich alle Flüchtlinge eine Duldung erhalten, solange ihre Abschiebung nach dem jeweiligen Rückführungsabkommen (noch) nicht möglich ist.
Sogar das Oberverwaltungsgericht Berlin, das aufgrund seines bisherigen Rechtsverständnisses selbst nicht die Lösung erzwingen zu können meinte, appellierte damals in einer mehrseitigen Passage einer Entscheidung „aus gegebenem Anlaß“ an den Senat, die Betroffenen aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen vorübergehend zu dulden (Beschluß vom 16. August 1995 – OVG 7 S 94.95).
3. Weshalb also in Berlin die ganze Aufregung? Hintergrund ist der Umstand, daß die Innenverwaltung – gestützt auf die Rechtsprechung des Berliner Oberverwaltungsgerichts – den betroffenen Flüchtlingen schon seit Jahren die Duldung verweigert, weil sie „freiwillig“ in ihre Heimat zurückkehren könnten. Diesen Tatbestand hat das Bundesverwaltungsgericht nunmehr für unzulässig erklärt, und zwar wegen des klaren Gesetzwortlautes und aus dogmatischen Gründen.
Ausländer dürfen nur dann abgeschoben werden, wenn sie sich weigern, auszureisen. Die Aussetzung der – ohnehin unmöglichen – Abschiebung (eine rein vollstreckungsrechtliche Frage) kann also nicht von einem Ausreiseversuch abhängig gemacht werden.
Bevor das Land Berlin eine dem System des Ausländer- und Vollstreckungsrecht widersprechende Bundesratsinitiative ergreift, sollten also zunächst die schriftlichen Entscheidungsgründe sehr sorgfältig geprüft werden.
4. Barbara Johns Sorge, dieses Ergebnis führe zu einer „selbstbestimmten Zuwanderung“ ohne Integration, ist unbegründet. Durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wird in keinem einzigen Fall der Aufenthalt eines Flüchtlings verlängert. Umgekehrt könnte also auch aufgrund der geforderten Gesetzesinitiative kein einziger Flüchtling früher als bisher abgeschoben werden. Es geht nur darum, daß Flüchtlinge, mit deren Anwesenheit wir uns zeitweise notgedrungen ohnehin abfinden müssen, vor unter Umständen langfristiger Illegalität mit allen negativen Folgen für die Gesellschaft bewahrt werden.
Das Phänomen, daß bestimmte Staaten, die Flüchtlinge „produzieren“, sich weigern, diese ohne ein vertraglich festgelegtes Verfahren zurückzunehmen, hat zwar bedauerlicherweise in letzter Zeit zugenommen. Die Ursachen sind unterschiedlich: Zum Teil werden Minderheiten regelrecht vertrieben und sind deshalb dauerhaft unerwünscht (sog. ethnische Säuberungen in Jugoslawien), zum Teil fehlt es aber nur zeitweise an Aufnahmemöglichkeiten (Kriegsfolgen beispielsweise in Bosnien). Auch machen sich in der Tat zunehmend Schlepper die durch Rückführungsabkommen (und nicht durch eine angeblich überholte Rechtslage!) gebundenen Hände der deutschen Behörden zunutze.
Mit einer Gesetzesänderung läßt sich daran jedoch überhaupt nichts ändern. Das Problem kann nur durch politischen Druck auf den Herkunftsstaat oder durch Unterstützung bei der Integration der Rückkehrer gelöst werden.
Innenstaatssekretär Kuno Böse hat seinerzeit an den Verhandlungen mit der vietnamesischen Regierung teilgenommen, und wenn das Abkommen in der Praxis stockt, muß eben nachgebessert werden. Vor dem Bundesverwaltungsgericht hat sich jedoch herausgestellt, daß die betroffenen Kläger zwar schon jahrelang ohne jede Legitimation in Berlin leben, aber ein Rückführungsantrag an die vietnamesische Regierung erst vor wenigen Tagen gestellt worden war. Erst wenn man das Abkommen auch selbst praktiziert, kann man berechtigterweise die mangelhafte Umsetzung durch die andere Seite kritisieren.
5. Wenn ein Land sich gegen die zwangsweise Rückführung eines seiner Staatsangehörigen sperrt, wird es ihn auch nicht als freiwilligen Rückkehrer aufnehmen wollen.
So hat eine umfangreiche Beweisaufnahme meiner Kammer im September 1995 ergeben, daß die Rückkehr von Angehörigen verfolgter Minderheiten nach Jugoslawien nur mit gefälschten oder Zweitpässen möglich war. Auch finden sich in den Rückführungsabkommen mit Jugoslawien oder Vietnam Klauseln, nach denen freiwillige Rückkehrer denselben Prüfungen wie Abzuschiebende unterliegen. Allein aus der Tatsache, daß gelegentlich Betroffene das Bundesgebiet verlassen, läßt sich kein Nachweis dafür erbringen, daß sie wirklich ihr Herkunftsland legal erreicht haben. Das Abstellen auf eine „freiwillige Rückkehrmöglichkeit“ hat also – soweit man dies überhaupt aufklären kann – im Grunde kaum eine praktische Bedeutung.
In eindeutigen Fällen (z.B. wenn ein Ausreisepflichtiger seinen Paß wegwirft oder seine Staatsangehörigkeit verschweigt, um seine Abschiebung zu verhindern), kann das Duldungsbegehren dogmatisch sauber als rechtsmißbräuchlich zurückgewiesen werden.
6. Flüchtlinge aus Jugoslawien und Bosnien haben seit Anfang 1994 Tausende von Klagen und einstweiligen Rechtsschutzverfahren eingeleitet, die die Verwaltungsgerichtsbarkeit allmählich lahmzulegen drohen und bei durchschnittlichen Verfahrenskosten von 1.500 Mark für den Steuerzahler erheblich zu Buche schlagen, „ohne die Problematik im Ansatz zu lösen oder Rechtsfrieden herbeizuführen“ (OVG-Vizepräsident Küster in einem Schreiben aus dem Jahr 1995 an den Innensenator).
In meiner Eigenschaft als Vorsitzender des Richterrates möchte ich in diesem Zusammenhang auf die nicht mehr zu verantwortende Belastung aller Mitarbeiter hinweisen (nach den streng berechneten Pensen der Justizminister müßte das Verwaltungsgericht bei den derzeitigen Eingangszahlen doppelt so viele Richter haben!), die in vielen Bereichen zu einer faktischen Rechtsverweigerung führen wird bzw. bei einer Verfahrensdauer von bis zu vier Jahren teilweise schon geführt hat.
Aber auch die Staatsanwaltschaft und das Amtsgericht Moabit sind von der Ausländerbehörde mit einer unüberschaubaren Zahl von Strafanzeigen wegen illegalen Aufenthalts überzogen worden, die sich nun erübrigen dürften. Dabei kam es zu besonders grotesken Einzelfällen: In der Sache 237 Ds 10/96 verurteilte das Amtsgericht einen Ausländer aus Jugoslawien, der nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu dulden gewesen wäre, am 19. Januar 1996 wegen eines angeblich 15monatigen strafwürdigen Aufenthalts zu 40 Tagesätzen à 10 Mark, nachdem er bei dem Versuch der Ausreise nach Makedonien am 24. Dezember 1995 (!) am Flughafen Schönefeld verhaftet und für vier Wochen in Untersuchungshaft genommen worden war.
Andere haben eine sechsmonatige Freiheitsstrafe auf Bewährung erhalten, die nun – wegen Fortdauer des angeblich strafbaren Aufenthalts – hätte vollstreckt werden müssen. Abgesehen von den Verfahrenskosten, die der Steuerzahler aufzubringen hat, müssen wir ernsthaft darüber nachdenken, ob wir es uns leisten können, wegen der Belastung durch solche Verfahren möglicherweise auf die Verfolgung schwerwiegender Straftaten verzichten zu müssen.
7. Kaum ein Flüchtling dürfte Berlin in den letzten Jahren verlassen haben, nur weil man ihm keine Duldung erteilt hat. Ein Anspruch auf Unterkunft und Verpflegung (Sozialhilfe) besteht auch ohne Duldung. Wenn die Arbeitserlaubnis verweigert wird, fühlen sich viele zur Passivität verurteilt oder weichen in Schwarzarbeit aus. Zu einer „freiwilligen Rückkehr“ wird sich der Flüchtling nur entscheiden, wenn er das Gefühl hat, in seiner Heimat eine Perspektive zu finden. Für die Rückkehr nach Bosnien leistet hier Barbara John beispielsweise hervorragende Arbeit. Solange jedoch Flüchtlinge – insbesondere die aus Vietnam und Jugoslawien – nicht zurückgeführt werden können, sollte man das politische Problem nicht auf Kosten des einzelnen lösen.
8. Berlin fühlt sich letztlich nur deshalb zu einem Abweichen von der bundeseinheitlichen Praxis veranlaßt, weil es überproportional viele Flüchtlinge aufnehmen mußte, ohne sich dagegen wehren zu können.
Hier liegt das eigentliche Problem: Asylbewerber können bundesweit verteilt werden, nicht jedoch geduldete Ausländer, weil der Gesetzgeber von ihrer baldigen Abschiebung ausging. Nachdem sich diese Annahme als falsch herausgestellt hat, sollte das Land Berlin im Bundesrat jetzt eine Verteilungsregelung auch für geduldete Flüchtlinge oder zumindest eine bundesweite Umlage der Kosten einfordern: Nur hier ist eine Gesetzesänderung wirklich geboten.
Percy MacLean, Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht zur Grundsatzentscheidung, daß Ausländer Anrecht auf formelle Duldung haben, wenn sie nicht abgeschoben werden können
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