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Leben und Lernen in Tokio

Ohne ein Auslandssemester geht bald nichts mehr. Der Hochschulabsolvent des 21. Jahrhunderts ist mehrsprachig, praxisbewährt und, natürlich, noch keine dreißig. Ein neues Anrechnungssystem soll die Anerkennung der Studienleistungen im Ausland gewährleisten  ■ Von Holger Wicht

Stock und Hut steh'n ihm gut, dem jungen Handwerksburschen, der sich auf die Wanderschaft begibt, um andernorts fremde Techniken und Gebräuche zu erlernen. Doch man sieht ihn immer seltener. Während die Walz des Gesellen von der Pflicht zur Kür geworden ist, hat der Auslandsaufenthalt für angehende Akademiker enorm an Bedeutung gewonnen.

Erfahrungen mit anderen Arbeitsweisen und verhandlungssichere Sprachkenntnisse sind im Zuge der Globalisierung häufig Einstellungsvoraussetzungen geworden. In vielen Wissenschaften wird auch hierzulande vorwiegend auf Englisch publiziert, wichtige Textquellen gibt es nicht in Übersetzung. Keine Frage, ohne China- Aufenthalt wird niemand Sinologe, und über französische Diskurstheorie reflektiert es sich am besten in Paris.

Etwa 40.000 deutsche Studierende packen jedes Semester College-Block und Laptop ein, um einige Zeit im Ausland zu studieren. Angesichts 1,9 Millionen Studierender noch viel zu wenige, heißt es im Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), dem Zusammenschluß von Hochschulen und Studentenschaften der Bundesrepublik. Der DAAD verwaltet zahlreiche Stipendienprogramme, darunter das Erasmus- Programm der Europäischen Union.

Gut 13.000 deutsche Studierende bekamen im vergangenen Jahr die zusätzlichen Kosten für einen Auslandsaufenthalt aus Brüssel erstattet, weitere 13.000 konnte der DAAD aus anderen Töpfen versorgen. In den kommenden Jahren sollen es noch mehr werden: „Es müssen mehr deutsche Nachwuchskräfte eine internationale Ausbildung erhalten“, heißt die Parole. Der DAAD hat daher in diesem Jahr sein Angebot erweitert. Erstmals sind außereuropäische Länder im Programm. Und durch eine Umstellung auf Teilstipendien sollen mehr Studierende und Graduierte gefördert werden.

Beispiel Betriebswirtschaft. Der Studiengang gilt heute ohne Auslandssemester fast als unvollständig. Die Wissenschaftliche Hochschule für Unternehmensführung (WHU) in Koblenz hat ihre Ausbildung ganz auf die Erwartungen der Wirtschaft ausgerichtet. „Gesucht werden Leute mit Auslandserfahrung, die bereits Praktika gemacht haben und noch nicht 30 sind“, sagt Phoebe Schnurr, Sprecherin der WHU. Die Studierenden der Privatuniversität, hauptsächlich finanziert durch Studiengebühren und Spenden potentieller Arbeitgeber, werden durch ein weitgehend verschultes Studium von acht Semestern geschleust. Auch zwei Auslandsaufenthalte gehören dazu. Nicht selten bahnen schon die Pflichtpraktika den Absolventen den Weg.

So war es bei Stefan Richmann, der heute als Controller bei BMW den Kontakt zu Vertriebs- und Finanzierungsgesellschaten im Ausland hält. Für die nötigen Sprachkenntnisse in Französisch und Englisch sorgten ein Semester in Kanada und eines in den USA. Auch der starke Praxisbezug des Studiums in den USA habe ihn auf den Beruf vorbereitet, sagt Richmann. Vor allem die Fähigkeit zur Teamarbeit werde dort besser unterstützt als an normalen deutschen Universitäten. „Außerdem sind viele der wichtigen Finanztheorien und Bilanzierungsmodelle in den USA entwickelt worden und werden dort auch besser vermittelt.“

Daß Auslandsaufenthalte gewinnbringend sind, stellt niemand mehr in Frage. Die Begründungen fallen allerdings verschieden aus. Für die einen steht der Erwerb maximaler Fähigkeiten in möglichst kurzer Zeit im Vordergrund. Dafür gab es an der WHU 1996 die Diplome gar aus der Hand des Kanzlers. Kommilitonen von heute sind Handelspartner von morgen, und wer in Tokio auf Wohnungssuche war, muß ein patenter Kerl sein. Erfahrungen und Kontakte in fremden Ländern sind Kapital.

Schwerer hat es, wer ins Ausland geht, um sich intensiv mit einer anderen Kultur auseinanderzusetzen oder Studienschwerpunkte zu vertiefen. Das kostet Zeit und Geld – an beidem fehlt es Studierenden, vor allem dann, wenn sie vom Bafög abhängig sind. Denn die Förderungsdauer eines Studiums erhöht sich durch einen Auslandfsaufenthalt seit der letzten Bafög-Novelle nicht mehr. Der Auslandsaufenthalt ist nur dann drin, wenn die Studienleistungen an der Heimatuniversität weitgehend anerkannt werden.

Zumindest das ist im Rahmen des Erasmus-Programms der EU der Fall. European Community Course Credit Transfer System (ECTS) heißt das System zur Anerkennung von Studienleistungen, die im Ausland erbracht wurden. Nach Ansicht des DAAD hat sich das ECTS bislang bewährt.

Die Hochschulrektorenkonferenz empfiehlt die Einführung eines ähnlichen Systems für den innerdeutschen Gebrauch. Ein wichtiger Schritt, um endlich zu gewährleisten, daß auch bei einem Hochschulwechsel in Deutschland die bisherigen Studienleistungen anerkannt werden und ein Studierender nicht mehr ein Semester verliert. Ein Semester, das man im Ausland besser nutzen könnte.

Informationen zu Stipendienprogrammen enthält die Broschüre „Studium, Forschung und Lehre im Ausland“, kostenlos bei den Akademischen Auslandsämtern aller Hochschulen erhältlich.

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