: „Die Sprache gehört dem Volk“
■ Schluss mit Schluß: Hamburger Oberverwaltungsgericht schreibt an Hamburgs Schulen neue Rechtschreibung vor
Das Wort gehört dem, der es sagt. Den Satz besitzt, wer ihn flüstert oder schreibt. „Die Sprache gehört dem Volk“, hat das Hamburger Oberverwaltungsgericht (OVG) gestern entschieden. Und was das Volk besitzt, dürfe der Staat nicht verändern. Deshalb werden an Hamburgs Schulen weiterhin die neuen Rechtschreibregeln gelehrt, wie schon seit dem Ende der Sommerferien.
Das OVG hat damit im Eilverfahren eine Entscheidung des Hamburger Verwaltungsgerichts aufgehoben, das vor rund zwei Monaten die neuen Regeln verboten hatte. Damals hatte eine Gymnasiastin erfolgreich gegen den Tod des „ß“und die Ausrottung der Komma-Regeln geklagt. Doch an ihrer Schule werden neue und alte Schreibe parallel unterrichtet. „Die Schülerin ist also nicht gezwungen, sich den neuen Regeln anzupassen“, argumentierte das Oberverwaltungsgericht nun. Und wo kein Zwang sei, brauche es auch kein Verbot.
Erstklassig, freut sich die Schulbehörde. „Wir fühlen uns in unserer Auffassung bestätigt“, sagte gestern Willi Rickert, Mitarbeiter der dortigen Rechtsabteilung. Das Amt praktiziert seit August die „behutsame Einführung“der Schreib-Innovation: Nur Erst- und FünftkläßlerInnen (pardon: FünftklässlerInnen) müssen die neuen Regeln lernen. In Diktaten gelten beide Varianten als richtig. „Die alte Schreibweise wird aber als überholt gekennzeichnet“, erklärte Rickert.
Also Schluss mit Schluß; jedenfalls an staatlichen Schulen. Hamburgs Privatschulen können noch bis zum Jahr 2001 schreiben, wie sie wollen. An der katholischen Schule in Altona haben die Eltern Ende August einstimmig entschieden, daß Diktate ihrer Kinder unreformiert bleiben. „Das Kollegium richtet sich danach“, erklärte Lars Möller. Seine Tochter geht in die zweite Klasse der Schule. Seine Klage gegen die neuen Regeln liegt noch beim Hamburger Verwal-tungsgericht. Möllers Eilantrag hat die Kammer abgewiesen, jetzt wartet er auf das Hauptverfahren.
Verschwendete Zeit, argumentiert Volker Kunze. Der Lehrer ist an der Blankeneser Gesamtschule für die 5. bis 7. Klassen zuständig; also für jene, die neu schreiben lernen. „Für die Kinder ist das kaum ein Problem“, weiß Kunze aus Erfahrung. „In der fünften Klasse müssen die Schüler sich ohnehin noch einmal intensiv mit Rechtschreibregeln beschäftigen.“Schon seit zwei Jahren habe seine Schule „ab und zu einen Test mit den neuen Regeln geschrieben“. Nicht verbindlich, aber neugierig.
Ob die Wißbegier vergeblich war, wird das Bundesverfassungsgericht vermutlich Anfang nächsten Jahres entscheiden. Bis dahin verheddern sich die Länder-Gerichte in Entscheidungen: Niedersachsen hat am vergangenen Freitag die Reform in zweiter Instanz gestoppt. Verwaltungsgerichte in Dresden und Gelsenkirchen wandten sich Ende August ebenfalls gegen die neue Schreibe; hier stehen die Hauptverfahren noch aus. Erst in Karlsruhe wird dann endgültig darüber entschieden, ob „der Staat Motor sprachlicher Veränderungen“werden darf (O-Ton OVG-Hamburg). Judith Weber
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