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Frauen ohne Freischwimmer

■ Die Einfache Bühne zeigt ihre letzte Premiere im eigenen Haus: Die Arme Lisa von Nikolai Karamsin kommt naß und traurig aus der Kiste

Für einen Geist ist eine alte, dunkle Kiste ein angemessenes Domizil, und für einen großen Geist darf sie schon mal die Ausmaße eines Pianos annehmen. Das macht auch schön gruselige Geräusche, wenn der Mann aus der Vergangenheit den Deckel zurückschlägt und herausklettert. Der Raum, in dem er erscheint, ist weiß wie ein leeres Blatt Papier, doch an Inspiration, ein solches zu füllen, fehlt es ihm nicht. Also beginnt er zu erzählen, und ein Landstrich steigt aus dem Weiß auf, ein Wäldchen, ein altes Kloster und Wasser. Das vor allem, denn die Geschichte der Armen Lisa ist naß und traurig.

Die Kiste steht in der Ludwigstraße, und die Gelegenheit, sie und ihren Inhalt dort sehen zu können, wird nicht wiederkommen. Die Einfache Bühne feiert am Samstag die letzte Premiere im eigenen Haus. Mit der Armen Lisa stellt das seit 1994 im Schanzenviertel ansässige Theater die neunte Produktion vor. Bis zum Ende des Jahres findet außerdem der Russische Salon statt, eine zweisprachige Vortragsreihe mit osteuropäischen Künstlern. Danach wird das Haus vermutlich abgerissen, und neue Räume sind noch nicht gefunden. Doch auch die ungewisse Zukunft hält den Regisseur Jewgeni Mestetschkin und den Schauspieler Stephan Fischer nicht davon ab, die Geister erst einmal auf den Plan zu rufen.

Bei dem großen Unbekannten, der am Samstag aus der Kiste springen wird, handelt es sich um Nikolai Karamsin, einen berühmten alten Mann, der die russische Literatur des 19. Jahrhunderts geprägt hat wie kein zweiter. Vor allem sein erstes Werk machte ihn zum Bestseller-Autor: Die Arme Lisa ist eine kurze Novelle, geschrieben 1792 und bis heute im russischen Klassiker-Kanon auf einem der vordersten Plätze. Ein zweischneidiger Ruhm, denn wie Mestetschkin erklärt, kennen alle Russen den Titel, gelesen hat die Geschichte aber kaum jemand.

Der Inhalt ist schnell erzählt und top-inaktuell: Ein armes Bauernmädchen läßt sich auf eine Liebschaft mit einem Adligen ein, der sie bald fallen läßt. Da sieht sie keine andere Möglichkeit, als ins Wasser zu gehen. Üble Zeiten, als junge Frauen ohne Freischwimmer-Schein ins Leben entlassen wurden, denkt man. Und tatsächlich bewegt sich schon das Original zwischen Ironie und Tragik, eine Gewichtung, der Mestetschkin gerecht werden will. In Moskau ist die Arme Lisa als Musical aufgeführt worden, doch die dort gezeigte Witzigkeit will die Einfache Bühne nicht wiederholen. Der Schrecken der Geschichte soll gezeigt werden, die Leidenschaft, die Lisa zerreißt und wie eine Bombe ihre komplette Umgebung gleich mit vernichtet.

Ein guter Schriftsteller braucht vor allem eine einfühlsame Seele, hat Karamsin geschrieben. Darüber kann man lachen, aber sich ein bißchen zu gruseln ist ja auch ganz schön.

Barbora Paluskova

Premiere: Samstag, 25. Oktober (ausverkauft), weitere Vorstellungen: Sonntag, 26. und Freitag, 31. Oktober, 20 Uhr

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