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„Sie raubten Mircos Lebensmut“

Vier Mitglieder einer Hamburger Jugendgang wurden gestern für 27 einzelne Straftaten zu hohen Jugendstrafen verurteilt. Einen 17jährigen haben sie in den Tod getrieben  ■ Von Elke Spanner

Hamburg (taz) – „Rechtlich kann der Tod von Mirco den Angeklagten nicht zur Last gelegt werden.“ Das Aufatmen erfolgte zu früh. Denn „die moralische Verantwortung steht auf einem ganz anderen Blatt“, setzte der Vorsitzende Richter Günter Bertram nach. Er blickte den vier jungen Männern auf der Anklagebank fest ins Gesicht und sagte: „Ihre ständigen Forderungen raubten Mirco den Lebensmut“.

Für insgesamt 27 einzelne Straftaten verurteilte das Hamburger Landgericht gestern die vier Jugendlichen, die als „Stubbenhof- Gang“ über Monate hinweg den Hamburger Stadtteil Neuwiedenthal terrorisiert haben sollen, zu hohen Strafen. Wegen Raubes, Erpressung und Körperverletzung, auch in schweren Fällen, muß der Anführer der Jugendbande, Amor S., für drei Jahre und sechs Monate ins Gefängnis, sein Bruder Sadok für zwei Jahre und drei Monate. Kenan K. und Manuel K. bekamen Bewährungsstrafen von acht Monaten.

Der Name des Stadtteils Neuwiedenthal steht in Hamburg stellvertretend für das Phänomen Jugendkriminalität. Mit der Aburteilung der insgesamt acht Angeklagten im Alter zwischen 17 und 21 Jahren, so die Erwartung im Vorfeld, werde nicht nur Frieden im „Problemstadtteil“ südlich der Elbe einziehen, sondern die Jugendkriminalität an sich bekämpft. Der Stubbenhof ist eine der von Hochhäusern gesäumten Straßen in der Großwohnsiedlung Neuwiedenthal, in der es außer Wohnsilos kaum etwas gibt. Hier lebte auch der 17jährige Mirco, der sich Ende Januar vor einen Zug warf.

In seinem Abschiedsbrief deutete er an, Opfer von Erpressung und „Abzockerei“ gewesen zu sein. Namen nannte Mirco keine. Andere Jugendliche nannten welche. Als habe der Brief einen Bann gebrochen, erzählten in den nachfolgenden Tagen rund 40 Neuwiedenthaler ähnliche Erlebnisse, berichteten von Erpressungen, Diebstählen und vor allem von der Angst, die alle vor der „Stubbenhof-Gang“ gehabt haben wollen. Die Polizei nahm daraufhin fünf Jugendliche fest.

Das Brüderpaar Amor und Sadok S. sitzt seither in Untersuchungshaft. Der Boß ist Amor S. Der steht dazu, auch zu seinen Taten. Vor Gericht hatte er umfassend ausgesagt, eingeräumt, Kids aus der Nachbarschaft Geld und Klamotten „abgezogen“ zu haben. „Alle hatten Angst vor uns. Wir waren gewalttätig. Ich am meisten.“ Auf der Straße hielten die „Stubbenhofer“ andere Jungs und Mädchen an, zogen sie ins Gebüsch, durchsuchten sie nach Geld. Oder sie lauerten ihren Opfern am Bahnhof auf. Oder drangen gar in deren Wohnungen ein. Zum Beispiel in die der 16jährigen Patricia P., die dort mit ihrem Baby lebt und ihre Sozialhilfe bei den „Stubbenhofern“ abliefern mußte.

Als der Prozeß Mitte August eröffnet wurde, legte die Staatsanwaltschaft den Jugendlichen insgesamt 38 einzelne Taten zur Last. Die Verfahren gegen Yasar U. und Cihan Y. wurden bereits im September eingestellt. Der Älteste, der 21jährige Numan K., wurde wegen Raubes zu einer Jugendstrafe von einem Jahr auf Bewährung verurteilt.

Der Vorsitzende Richter sah es als erwiesen an, daß die Gang es „besonders auf Mirco abgesehen“ hatte, weil dieser regelmäßig eine Ausbildungsvergütung bekam. Im Urteil spielte Mirco jedoch nur in zwei Fällen eine Rolle. Entsprechend entsetzt zeigte sich gestern Rechtsanwalt Arne Dahm darüber, daß den Jungs dennoch die moralische Verantwortung für Mircos Tod zugesprochen wurde: „Darunter leiden sie sehr.“

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