: Der hohle Zahn Wirklichkeit
■ Die Bahnhofsmission geht weiter – auch ohne Schlingensief
Abends um zehn reibt sich die Kunst an der Wirklichkeit wie die Zunge am hohlen Zahn. „Wir sind kein Sozialprojekt“, sagt eine Schauspielerin mit Polizeikäppi und hilft Dirk, aufzustehen. Der fischt nach seiner Jutetasche mit dem zerknüllten Alltag darin. „Nix hat sich geändert, seit der Christoph weg ist“, brummelt Dirk.
Denn obwohl Christoph Schlingensief Hamburg am Mittwoch pünktlich nach 7 Tagen Notruf für Deutschland verlassen hat, ging das Projekt „Bahnhofsmission“bis gestern weiter – von 15 Uhr, wenn die kaputte Wanduhr fünf vor sieben zeigt, bis abends um zehn, wenn es in der Halle immer noch fünf vor sieben ist.
Auf einem Tablett trocknen Brötchen, die SchauspielerInnen musizieren und Horst, der Platte macht, erzählt einen Witz, den nur er versteht. Die Bahnhofsmission – ein Stück, dessen Ende niemand beklatscht und dessen Hauptdarsteller längst die Bühne verlassen hat. Mit Christoph Schlingensief sind die meisten Pressemenschen und viele Schauspielhaus-BesucherInnen verschwunden. Doch seit der Eigentümer die Wache für weitere drei Tage zur Verfügung gestellt hat, ist sie praller denn je: Junkies singen mit KünstlerInnen, die vor Betten stehen, in denen Obdachlose schlafen.
Genug hat niemand. Übermorgen zieht das Projekt in die Kantine des Schauspielhauses. Geöffnet wird die neue Mission zunächst mittwochs, erklärt Thomas Müller, Pressesprecher des Theaters. Schließlich werde es noch dauern, bis „Herr Runde“über Begegnungs-Container vor dem Bahnhof entscheide. Schauspielhaus-Intendant Frank Baumbauer hat zwar mit Hamburgs Bald-Bürgermeister Ortwin Runde (SPD) und mit Noch-Kultursenatorin Christina Weiß (parteilos) über Schlingensiefs Wunsch gesprochen. Resultate gebe es jedoch noch nicht.
„Das braucht vermutlich noch Zeit“, wiederholt Müller, über dessen Kopf die Uhr immer noch fünf vor sieben zeigt. Abends um zehn überholt die Wirklichkeit die Kunst. Aus der Tür der Ex-Wache 11 ergießen sich Menschen auf den Gehsteig – schlurfen nach Hause, in die Kneipe, oder, wie Dirk, „einfach auf die Straße“. Judith Weber
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