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Sprudelnde Quellen im Sand

In der Oase Siwa gibt es Wasser im Überfluß, das gefährlichste Dünenfeld der Welt bot jahrhundertelang Schutz vor Überfällen, nicht aber vor der Moderne. Tourismus und Technik verändern jahrtausendealte Traditionen und eine einzigartige Natur mit Südsee-Flair  ■ Von Martin Jacobs

Über den staubigen Marktplatz mit der Moschee in der Mitte holpern einachsige Karren, die von flink trabenden Eseln gezogen werden. Vorne sitzen alte Männer in weißen Gewändern und dunklen Westen. Hinten die Frauen, die ein großes, graues Tuch über den Kopf geworfen haben, so daß man kaum die Augen erahnen kann. Spüren sie den neugierigen Blick des Fremden, wird auch der schmale Sehschlitz schnell zugezogen. „Die Eselskarren nennen die Leute hier Karussah“, erklärt mir Abdu, mit dem ich in einem Straßencafé auf Palmholzstühlen sitze. Das eigentümliche Wort verät seinen Ursprung aus der italienischen Besatzungszeit.

Siwa, die Oase in der westlichen Wüste Ägyptens, rund 300 Kilometer südlich des Mittelmeeres und nahe der libyischen Grenze, hat die Weltpoltik nicht immer von sich fernhalten können. Mit den Gästen aus der Fremde ist dies schon eher gelungen, liegt der Ort doch fernab von der üblichen Touristikroute im Niltal.

Die Oase Siwa besteht nicht nur aus einer Wasserstelle, die von wenigen Palmen notdürftig vor der sengenden Sonne geschützt wird. In einer Depression unterhalb des Wüstenplateaus treten hier über tausend Quellen hervor, von denen mehr als eine Viertelmillion Palmbäume ernährt werden. Das ständig sprudelnde Naß kann in der Senke nicht ablaufen und sammelt sich am Rande der Oase in großen Seen, die aufgrund der dauernden Mineralzufuhr versalzen. Unter Palmen, die sich, vom Winde gekrümmt, über das Wasser neigen, fühlt man sich in die Südsee versetzt. Aber die Dünen am anderen Ufer sind nicht der karibische Strand, sondern die Ausläufer des größten und gefährlichsten Dünenfeldes der Welt, das das „Große Sandmeer“ genannt wird.

Die Wüste bot der Oase über Jahrhunderte einen wirksameren Schutz als der Ozean einer Insel: So drohte der Perserkönig Kambyses vor 2.400 Jahren Siwa zu erobern und zu zerstören. Doch seine Armee von 50.000 Mann wurde beim Anmarsch auf die Oase durch einen Sandsturm spurlos verschüttet. Noch heute wird – bislang vergeblich – nach den Überresten der Soldaten gesucht. Später wurde das Sandmeer dann tatsächlich zum Kriegsschauplatz gemacht: Im Zweiten Weltkrieg stationierten die Briten in Siwa Truppen, um einen Angriff der Achsenmächte auf die ägptische Ostgrenze abzuwehren. Die Bombardements der Italiener zwangen die Einwohner, ihre Lehmhäuser zu verlassen und in pharaonischen Gräbern Zuflucht zu suchen. Als die Briten überraschend abzogen, besetzten italienische Einheiten den Ort. In ihrem Gefolge machte Rommel dort Station – wenige Wochen, bevor er weiter nordöstlich bei El-Alamein zum Rückzug gezwungen wurde.

Feinde für die einzigartige Natur und Tradtion der Oase kommen heute aus Kairo und den reichen Ländern nördlich des Mittelmeers: Der technische Fortschritt und der – noch spärliche – Tourismus ziehen über die alte, inzwischen asphaltierte Straße ein, die Siwa mit dem am Mittelmeer gelegenenen Mersa Matruh verbindet.

Doch ganz ungewohnt ist das Erscheinen der Fremden auch wieder nicht: Bereits im Altertum gewann die Oase einen Teil ihres Wohlstands neben der Dattelproduktion aus dem Tourismus: Das Orakel des Gottes Amun in Siwa war, vergleichbar mit Delphi, so berühmt, daß Alexander der Große es besuchte. Der beschwerliche Weg vom neugegründeten Alexandria durch die Wüste dauerte damals zwei Wochen.

Nicht ohne Grund machte Alexander auf seinem Eroberungszug, der ihn bis zum Indus führte, diesen zeitraubenden Abstecher: Das Orakel von Siwa erklärte den Makedonen zum Sohn Amuns. Damit bekräftigte es nicht nur Legenden über den göttlichen Ursprung Alexanders, sondern legitimierte ihn auch als Pharao. Wahrscheinlich hat politische Vernunft die Amunpriester dazu bewogen, den Eroberer als Gottessohn zu bezeichnen. Noch heute sind die Ruinen des Orakeltempels weithin über die Oase sichtbar. Wie ein Schiff, das aus den Wogen aufsteigt, liegen sie auf einem nackten Felsrücken über den Palmenhainen.

Im Mittelalter zwangen Beduinenüberfälle die Oasenbewohner, die sich Siwi nennen, eine festungsartige Stadt zu bauen. Die aus Palmstämmen und Lehm gebauten Häuser waren dichtgedrängt an einen Hügel geklebt. In dieser Wohnburg namens Schali mußten die Menschen aufs engste zusammenrücken. Was die Siwi jedoch nicht davon abhielt, sich in die Fraktionen der „Westler“ und „Ostler“ zu spalten. Die befehdeten sich bei fehlender äußerer Bedrohung heftig und schlossen untereinander keine Ehen.

Die Abgeschiedenheit der Oase ließ noch eine Reihe weiterer sozialer Regeln entstehen: Eine besondere Klasse bildeten unter anderem die Arbeiter der Palmpflanzungen, die in der Berbersprache Zaggalah genannt werden. Sie mußten außerhalb der ummauerten Stadt in den Gärten übernachten und durften nicht vor dem vierzigsten Lebensjahr heiraten. Zum Junggesellenleben gezwungen, gingen einige Zaggalah homosexuelle Beziehungen ein, wobei der Ältere teilweise eine Art Brautgeld für den Jüngeren zahlte. Dies ließ sich jedoch schwer mit islamischer Moral vereinbaren, ebensowenig wie die nächtlichen Feiern der Zaggalah, bei denen Palmschnaps getrunken wurde.

Gegen diese Sittenlosigkeit startete die islamische Sekte der Sanusi eine Art Erziehungsprogramm. Mit unterschiedlichem Erfolg: Bei einem Besuch der Oase fragte Faruk, der letzte ägyptische König, die örtlichen Scheichs, ob gewisse Übel in Siwa immer noch praktiziert würden. Anstelle einer Antwort drückten die Ältesten nur ihr stummes Unbehagen über die öffentliche Demütigung aus. Ihr Mißfallen wurde noch durch die Erscheinung des Königs verstärkt: Wie ein englischer Tourist stand er vor ihnen in khakifarbenen Shorts, eine Bekleidung, die bis heute in Siwa auf Unverständnis stößt.

Unter einem speziellen Aberglauben mußten Witwen leiden. Nach der Vorstellung der Siwi besaß eine Frau, deren Mann gestorben war, einen besonders starken „bösen Blick“. Sie bringe jedem Unglück, auf den sie ein Auge richte. Direkt nach der Beerdigung ihres Mannes wurde die Witwe daher aus der Stadt ausgestoßen und mußte längere Zeit ein Eremitendasein führen.

Nach Ablauf einer Frist (zwischen vierzig Tagen und vier Monaten) wurde die sogenannte Ghula mit verbundenen Augen in die Stadt zurückgeführt und hatte sich in einer Quelle zu reinigen. Am folgenden Tag vollzog sie einen letzten Ritus, um von dem „bösen Blick“ befreit zu werden: Sie stieg aufs Dach und warf auf den ersten Mann, der vorbeikam, ein Palmstöckchen. Traf sie ihn, so konnte der Mann an diesem Tag ein Unglück erwarten. Doch die Frau galt nun endgültig als vom „bösen Blick“ befreit und war damit zugleich von der Demütigung erlöst.

Bis heute werden in Siwa die meisten Mädchen verheiratet, bevor sie 14 Jahre alt sind. Nach der Hochzeit dürfen nur noch die engsten männlichen Verwandten mit ihnen sprechen. Aber selbst für Besucher der Oase ist erkennbar, daß im Leben der Frauen nicht alles beim alten bleibt: Einige jüngere Frauen tragen statt des alles verhüllenden Überwurfs die moderne Variante islamischer Kleidung, wie sie in den Städten verbreitet ist. Auch dabei werden die Haare unter einem Kopftuch verborgen, aber das Gesicht bleibt frei.

Eine Ethnologin, Bettina Leopoldo, hat Zugang zu dieser Welt der Frauen gewonnen, die Fremden (insbesondere Männern) sonst völlig verschlossen bleibt, und erforscht sie. Die Schweizerin engagiert sich auch für den Aufbau eines Gesundheitszentrums für Frauen und Kinder.

Ein erster Anstoß zur Veränderung der alten Sitten lag in der Zerstörung der alten Lehmburg Schali, die bei einem der äußerst seltenen, aber sintflutartigen Regenfälle unbewohnbar wurde. Das alte Schali ist jetzt weitgehend verlassen und bildet mit seinen zerklüfteten Ruinen eine weithin sichtbare pittoreske Kulisse. Zu Füßen des alten Siedlungshügels hat sich eine kleine Neustadt entwickelt, zum Teil noch traditionell in Lehmtechnik errichtet.

Zunehmend werden aber auch einstöckige Bauten aus Betonsteinen gebaut, die sich planlos über die Ebene verbreiten, ähnlich wie in einer zentralafrikanischen Stadt. Die Kairoer Regierung hat ein Krankenhaus und Schulen gebaut, an denen aber nicht der einheimische Berberdialekt, sondern Arabisch Unterrichtssprache ist. In den über Jahrhunderte weitgehend abgeschlossenen Mikrokosmos sind inzwischen Fremde aus Alexandrina, Kairo und dem Niltal zugezogen.

Früher mußten ausländische Abenteurer und Forscher, die nach Siwa reisten, um ihr Leben fürchten. Bis vor wenigen Jahren war der Besuch der Oase nur mit behördlicher Genehmigung möglich. Inzwischen sind einige Einheimische sowie auswärtige, tourismuserfahrene Ägypter ins Geschäft mit den Ausländern eingestiegen. Kleine Hotels und bescheidene Läden mit örtlichem Kunsthandwerk wurden eröffnet.

Noch gibt es keine Bank. Doch mit jedem Menschen, der nach Siwa kommt, wird der Wandel beschleunigt. Der örtliche Manager für Fremdenverkehr, Mahdi Mohammed, plädiert für einen sanften Tourismus.

Vielleicht ist der Wandel steuerbar, in jedem Fall unvermeidbar. Solche tourismuskritischen Gedanken zerstreuen sich aber, wenn man abends von einer Radtour durch die Palmhaine zurückkehrt und in einem der Freiluftrestaurants einkehrt. Mein Bekannter Abdu empfiehlt mir eine dicke, heiße Linsensuppe, Ats genannt. Sie ist nirgends so köstlich wie hier und tut gut bei der Kühle, die sich in der Wüste nach Sonnenuntergang ausbreitet. Sollte ich danach immer noch frösteln, meint Abdu, könnte ich ein Bad in Kleopatras Quellen nehmen. Dort fördert das heiße Wasser perlende Luftblasen aus der Tiefe, die an der Oberfläche zerplatzen.

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