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„Politisch-theoretische Zwitterwesen“

Wissenschaftler der TU Chemnitz dechiffrieren in einem Sammelband, wie die Erfinder der Totalitarismustheorie ihre Emigrantenschicksale theoretisch verarbeitet haben. Fragen an die zeitgenössische linke Sozialwissenschaft, die auf einem Auge blind blieb  ■ Von Martin Jander

Mit großer Energie betreibt der heute an der TU Chemnitz lehrende Alfons Söllner seit langen Jahren ein Projekt. Er erläutert seinen Lesern die Geschichte und die Gefährdung der Demokratie aus der Perspektive der vor den Nationalsozialisten vertriebenen Emigranten. Mit dem Band „Totalitarismus“, den er zusammen mit Ralf Walkenhaus und Karin Wieland herausgegeben hat, wird diesem Projekt ein weiterer Baustein hinzugefügt.

Worin also liegt die Aktualität der Totalitarismustheorie? Das Buch gibt darauf keine einheitliche Antwort. In fünf Kapiteln werden überarbeitete Referate einer Tagung des Hamburger Instituts für Sozialforschung von 1994 präsentiert. Sie sollen keine vollständige Übersicht über Geschichte und Verästelungen der Totalitarismustheorie liefern. Vielmehr werden exemplarisch bekannte und vergessene Werkbiographien der Totalitarismustheoretiker vorgestellt. Der Tagungsband versteht sich damit als bewußte Ergänzung zu den im letzten Jahr bereits erschienenen Sammelbänden von Hans Maier und Eckhard Jesse, die Konzepte des Diktaturvergleichs bzw. eine Bilanz der bisherigen Totalitarismusforschung enthalten.

Vielfalt der Ansätze – ähnliche Resultate

Die Vielfalt der dargestellten Ansätze macht zu allererst deutlich, daß es „die Totalitarismustheorie“ nicht gab bzw. gibt. Ihre Erfinder kommen aus ganz verschiedenen liberalen, christlichen, sozialdemokratischen und kommunistischen Traditionen. Das Frühwerk des konservativ-katholischen Waldemar Gurian, des kommunistischen, später linkssozialistischen Franz Borkenau, des Liberalen Sigmund Neumann und der Heidegger- und Jaspers-Schülerin Hannah Arendt scheinen auf den ersten Blick kaum Gemeinsamkeiten aufzuweisen. Und doch sind sie vorhanden.

Die Werkbiographien zeigen verschiedene Totalitarismustheoretiker als – so Söllner – „theoretisch-politische Zwitterwesen“. Das soll heißen: Sowohl Erfinder wie auch spätere Entwickler dieses Theorieansatzes waren in der Mehrzahl Intellektuelle, die sich ihrer politischen Ambitionen sehr bewußt waren. Ihre politischen Absichten, die Verteidigung der Demokratie gegen Nationalsozialismus, Stalinismus und Poststalinismus, durchdrangen nicht selten auch ihre theoretisch-analytische Arbeit. Intellektuell wie biographisch ist dies nicht weiter verwunderlich, denn die Gemeinsamkeit der meisten ihrer Protagonisten in den 30er Jahren ist, daß sie „prädestinierte Opfer entweder des Hitler- oder Stalin-Regimes“ waren, „die der Todesdrohnung oft nur mit knapper Not entrinnen konnten, bisweilen waren sie sogar von beiden Regimen gleichzeitig verfolgt“.

Der von Kritikern immer wieder hervorgehobene, normativ an das demokratisch-parlamentarische System gebundene Charakter vieler Totalitarismustheorien, die oft beklagte Starre ihrer analytischen Kategorien, angeblich untauglich zur Analyse dynamischer Systeme wie des Nationalsozialismus und des Stalinismus, hat ihren Ursprung in der existentiellen Erfahrung der Zerstörung jeden Rechts. Die Entkommenen hielten diesen Regimen angesichts von bis dato unvorstellbaren Verbrechen analytisch-zivilisatorische Mindeststandards entgegen. Gemessen an den Standards einer Zivilgesellschaft (Pluralismus, Trennung von Staat und Gesellschaft, Rechtsstaatlichkeit etc.) waren beide Regime nicht gleich, hatten aber gleiche Mängel.

So zeigt Söllner in seinem Beitrag über Sigmund Neumann, daß Totalitarismustheorie die Entstehung des wissenschaftlichen Diktaturvergleichs in Gang brachte. Hierin sieht er selbst die Aktualität der Beschäftigung mit ihnen. Die existentielle Erfahrung des Unrechts stellt die theoretische Produktion der Protagonisten der Totalitarismustheorie aber keinesfalls außerhalb jede Kritik. Die Beschäftigung mit ihnen beinhaltet nach Söllner statt dessen eine „delikate Aufgabe“. Weder darf der Hinweis auf die existentielle Erfahrung des Unrechts und das politische Engagement die Kritik der analytischen Kriterien eines Autors unterbinden, noch darf die Kritik seines theoretischen Vermögens ebenjenes existentielle Unrecht und Engagement unsichtbar machen. Söllner plädiert dafür, die Widersprüchlichkeit der Totalitarismustheorie „gleichsam auszuhalten [...], die totalitäre Erfahrung gleichzeitig beim Wort zu nehmen und an ihrer analytischen Auflösung zu arbeiten“.

Carl Schmitt als politischer Mentor

Und genau dies tun die meisten Autoren der Beiträge dann auch. Die Totalitarismustheoretiker werden dem Leser in ihrer Widersprüchlichkeit sehr nahe gerückt. Den wohl aufregendsten Beitrag des Bandes hat dabei Hans J. Lietzmann zu Papier gebracht. Er präsentiert ein „politisch-theoretisches Zwitterwesen“ ganz eigener Art. Er beschreibt die Entstehung der klassischen Totalitarismustheorie von Carl Joachim Friedrich, der das später immer wieder verwendete idealtypische Modell „totalitärer Herrschaft“ mit sechs Merkmalen formulierte. Dieses Modell entstand – wie Lietzmann zeigen kann – aus Überlegungen, die Friedrich am Ende der Weimarer Republik – parallel zu Carl Schmitt – über das Problem einer „konstitutionellen Diktatur“ anstellte. Vollständig ausformuliert hat er seine Überlegungen 1950, um die Besatzungspolitik der westlichen Alliierten in Deutschland von der „totalitären Diktatur“ des Nationalsozialismus abzugrenzen. Das Besatzungsregime definierte er als „konstitutionelle Diktatur“, die auf die Herstellung verfassungsmäßiger Zustände gerichtet und damit zumindest legitim sei. Der Stammvater der klassischen Totalitarismustheorie vertrat 1950 also keine normative Demokratietheorie, sondern legitimierte die Außerkraftsetzung demokratischer Rechte zu einem „guten Zweck“.

Die Aufsätze rekonstruieren neben Werkbiographien von Erfindern der Totalitarismustheorien die ihrer wesentlichen Protagonisten in den USA (Arendt/Friedrich/Linz), Frankreich (Aron/Lefort/Castoriadis) und der Bundesrepublik (Bracher). Vor allem das Schlußkapitel zeigt – in konträren Beiträgen – die widersprüchliche Aufnahme, die Totalitarismustheorien gegenwärtig in der bundesrepublikanischen Linken finden. Während Hubertus Buchstein die Kritik von Sozialwissenschaftlern an der analytischen Tauglichkeit der Totalitarismustheorien zur Analyse insbesondere der Verhältnisse in der untergegangenen DDR rekapituliert und deshalb vor einer Renaissance der Totalitarismustheorien warnt, hat Wolfgang Kraushaar die Zurückweisung der Totalitarismustheorien durch die Studentenbewegung nachgezeichnet. Mit der Übernahme vorwiegend marxistischer Faschismustheorien habe sie die Fähigkeit verloren, den Terror stalinistischer Regime zu begreifen. Kraushaar spitzt zu: „Die Linke und der Antitotalitarismus schließen sich nicht aus, sondern gehören in einem essentiellen Sinne zusammen.“

Die Linke muß sich noch erklären

Der Beitrag von Kraushaar weckt Lust auf mehr. Insgesamt scheint die Herausforderung, die die Totalitarismustheorie für linke Sozialwissenschaft in Deutschland bedeutet, in dem Band zu kurz gekommen. Kraushaar deutet es nur an: Daß der Holocaust in der marxistischen Faschismustheorie schon kategorial nicht vorkam, sollte eine Lehre sein. Die Lager im Stalinismus übrigens auch nicht. Ein sehr interessanter Band zur aktuellen sozialwissenschaftlichen und politischen Debatte.

Alfons Söllner, Ralf Walkenhaus, Karin Wieland (Hrsg.): „Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts“. Berlin 1997, Akademie-Verlag, 78 DM.

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