■ Seit der Vereinigung sind Katastrophenszenarios in Deutschland out, es regiert die Sehnsucht nach Normalität. Im Kampf ums Klima stehen engagierte Wissenschaftler und Umweltpolitiker allein Von Matthias Urbach: Die Hoffnung auf einen Irrtum
In Kioto ringen Umweltschützer und Regierungschefs um ein Protokoll zur Bekämpfung der Treibhausgase. Alles deutet auf einen schwachen Kompromiß, der wirksame Maßnahmen auf die lange Bank schiebt. Egal, wie gut das Klimaschutzprotokoll am Ende ist, seine Umsetzung hängt vom Druck ab, den danach die Ökoverbände auf ihre Regierungen machen. Doch die Umweltschützer sind längst in der Defensive.
Ein Förster stapft durch Sanddünen, mitten im Emsland. „Klarer Sand verdeckt weit und breit den Boden, tagelanger Regen vermag den Sand kaum ein paar Zoll tief anzufeuchten, und anhaltender Sonnenschein verwandelt ihn dermaßen in Staub, daß der nächste Windstoß ganze Wolken aufjagt, die Hügel losreißt und oft nahe liegende Äcker für immer unfruchtbar macht. Und mitten darin der Forstmann mit der Aufgabe, einen Wald daraus zu schaffen.“
Dies ist kein Szenario für die drohende Klimakatastrophe, sondern Geschichte. Die Zeilen sind von 1837, niedergeschrieben vom königlich hannoverschen Revierförster Friedrich Müller, tätig in Lingen.
Katastrophenszenarios sind out. Anders als vor zehn, fünfzehn Jahren, als das Waldsterben für viele noch Gewißheit war und die Angst vorm Atomkrieg allgegenwärtig, fehlt heute in der Bevölkerung nicht nur die Phantasie, sondern vor allem die Bereitschaft, bedrohlichen Zukunftsszenarien nachzuhängen.
Trotzdem passiert etwas. Ab Montag treffen sich Diplomaten aus 170 Ländern, um über Maßnahmen gegen eine mögliche Katastrophe zu beraten, von der noch nichts sichtbar ist: der Treibhauseffekt. Eine Woche später werden die Minister und Regierungschefs folgen, um ein rechtlich bindendes Protokoll zu beschließen – vielleicht die einschneidendste umweltpolitische Entscheidung aller Zeiten. Falls sie denn zustande kommt.
Es geht darum, eine globale Temperaturerhöhung von rund zwei Grad in hundert Jahren zu verhindern, vielleicht zehn Grad in tausend Jahren. Mit ihnen Stürme, Epidemien und Mißernten, das Versinken ganzer Inselgruppen im Meer, vielleicht sogar Völkerwanderungen. Und es geht darum, Gegenmaßnahmen zu beschließen, die so einschneidend sind, daß die US-Wirtschaft ihrerseits Katastrophenszenarios entwarf: Jedes Jahr könnten 600.000 Jobs verschwinden, wird in doppelseitigen Zeitungsanzeigen geunkt.
In Deutschland undenkbar. Hier gibt sich die Mehrheit unbeteiligt. Der Streit um Reduktionen von Kohlendioxidausstoß ist ein Kampf der Eliten. Keine Demonstrationen, keine Boykottaufrufe, kein Propagieren von Verhaltensänderungen. Nicht die üblichen Aktionen, die man aus den großen Gefechten der Umweltbewegung kennt. Der Kampf ums Klima ist ein „Marsch durch die Institutionen“-Phänomen: Ohne engagierte Wissenschaftler und Umweltpolitiker würde nichts passieren. Der Bevölkerung ist es egal.
Wer erinnert sich noch an die mißglückte Klimakampagne der Grünen im Wahlkampf 1990. Die Westgrünen kamen nicht in den Bundestag. Gut: Es handelte sich um eine einmalige Situation, die Wiedervereinigung, der Kampf um die D- Mark überlagerte einfach alles. Sicher aber ist: Im aktuellen Wahlkampf würden die Grünen wieder scheitern, wenn sie erneut einen Klimazug durchs Land rattern ließen. Heute nennen nur noch sechs Prozent der grünen Kernwähler – die, die auf jeden Fall grün wählen – Umweltschutz als wichtigstes Thema. Ganz zu schweigen vom Klima. Es ist schon eine Leistung, wenn der Treibhauseffekt nicht mit dem Ozonloch verwechselt wird.
Keiner will mehr etwas von der Katastrophe wissen. Hört man das nicht ständig, überzogen noch dazu? Und dann ist der Wald doch nicht gestorben. Deutsche Atomreaktoren scheinen nicht durchzuschmelzen. Und Aids hat uns auch nicht weggerafft. Spätestens seit der Atomkrieg nicht mehr droht, seit der Wiedervereinigung, scheint in der Bundesrepublik die Bereitschaft zu Katastrophenstimmungen verloren. Statt dessen regiert die Sehnsucht nach Normalität. Wer würde heute noch wegen des Klimas einen Flug in den geliebten Süden absagen? Verzicht ist so out wie selbstgeschrotetes Müsli und Wollpullis. Wer heute sein Verhalten ändert, tut das zumeist unfreiwillig, in die andere Richtung: abgepackter Emmentaler aus dem Aldi-Kühlregal statt biodynamischem Ziegengouda – weil das Geld fehlt. Für den Treibhauseffekt erwärmt man sich erst, wenn Zweifel an dieser Theorie laut werden: „Ich hab's ja schon immer geahnt, der Treibhauseffekt existiert gar nicht.“ Die Hoffnung auf einen Irrtum der Forscher ist größer als die Hoffnung auf eine Wende in der Umweltpolitik. Vielleicht ist ein Irrtum auch wahrscheinlicher. Jedenfalls hat diese Möglichkeit mehr Sex- Appeal als die ewige Schwarzmalerei. Schade nur, daß selten ein Katastrophenszenario wissenschaftlich so gut fundiert war: Wann waren an der Formulierung eines Horrorszenarios schon einmal so viele Forscher beteiligt? Klar, ein Irrtum von 2.000 Wissenschaftlern ist möglich. Sechs Richtige im Lotto auch.
Bleibt die zweite Hoffnung: Alles nicht so schlimm. Leider zählen zu den Propheten der Katastrophe nicht ausschließlich die üblichen Verdächtigen. Dazu gesellen sich ganze Regierungen und Wirtschaftszweige. Die, die als erste verlieren werden, die Gruppe der 36 Inselstaaten, denen das Wasser schnell bis zur Haarspitze stehen könnte, und die Versicherungswirtschaft, der eine Klimaerwärmung und damit der Zuwachs an Unwettern schnell die Rücklagen einschmelzen könnte.
Katastrophen sind out. Trotzdem passieren sie. Zuweilen. Zum Beispiel im Emsland: Mit jahrhundertelangem Raubbau an den Wäldern hatten die emsländischen Bauern Mitte des 18. Jahrhunderts ihre Böden schließlich so ausgelaugt, das feiner Sand zu Tage trat und Wanderdünen entstanden, die Häuser bedrohten, Äcker unfruchtbar machten und sogar den Schiffsverkehr auf der Ems behinderten. So waren 1780 im Amtsbereich Meppen nur noch 0,3 Prozent der Flächen bewaldet, aber 7,5 Prozent durch Sandverwehungen bedeckt. Bereits 1744 wurden verschiedene herrschaftliche Edikte erlassen, um eine Aufforstung durchzusetzen gegen den Flugsand. Doch die Bauern weigerten sich, Ackerfläche herzugeben. Der Preis für das Zaudern war der wirtschaftliche Niedergang der emsländischen Bauern. Auswanderungswellen nach Amerika und später ins Ruhrgebiet waren die Folge. Die Bauern hatten den Boden verbraucht, bis nichts mehr ging.
Es sieht so aus, als steuere die Welt zur Zeit einen ähnlichen Kurs wie die Emslandbauern. Dabei sah es in Deutschland schon mal besser aus, als es um das Waldsterben ging. Wer sich jetzt über manches ungestüme Horrorszenario zum Wald lustig macht, dem ist der Erfolg der damaligen Kampagnen entgegenzuhalten. Die Kassandrarufe halfen, Gegenmaßnahmen durchzusetzen. Daß die Katastrophe ausblieb, ist also nicht bloß Betrug, sondern auch ein Erfolg. Übertrieben waren die Warnungen doch. Und so bleibt das Gefühl, nie wieder auf solche Übertreibungen reinfallen zu wollen.
Das hat beim Treibhauseffekt tückische Folgen. Denn der ist unsichtbar, kein wehender Sand kratzt in den Augen, keine sterbenden Bäume drohen von den Bergkuppen. Die Folgen des heutigen Ausstoßes werden erst in fünfzig Jahren wirklich spürbar. Einmal in der Atmosphäre angesammeltes Kohlendioxid braucht rund 400 Jahre, um auf die Hälfte abzuklingen. Je länger gewartet wird, um so teurer und schwerer wird es zu reagieren.
Ein Wunder, daß die Völkergemeinschaft sich überhaupt mit dem Thema befaßt und Maßnahmen verhandelt. Konnte doch bislang, allen Bemühungen auf dem Rio-Umweltgipfel zum Trotz, das Ruder bei anderen Problemen nicht herumgerissen werden. Noch immer wird jährlich eine Waldfläche gerodet, doppelt so groß wie Bayern. „Fünf Jahre nach Rio hat sich der Zustand der Umwelt weiter verschlechtert“, so steht es im offiziellen UN-Bericht. Seit Jahren erkämpfen Konzerne und Regierungen die Deregulierung von Vorschriften. Globalisierung, die Enfesselung des Welthandels gibt den Takt vor. Zur Zeit verdoppelt sich der Wert des weltweiten Warenstroms alle zehn Jahre. Und das sollte sich durch neue Verschriften aufhalten lassen? So effektiv dabei der Einsatz der Umweltverbände und Dritte-Welt-Gruppen (NGOs) in den internationalen Verhandlungen und auf der Ebene der politischen und wissenschaftlichen Elite ist, selbst ein brauchbares Klimaschutzprotokoll, so es in Kioto zustande kommt, könnte gerade dort scheitern, woher die ursprüngliche Stärke der Umweltbewegung kam: am mangelnden Engagement der Bevölkerung.
Wer sagt, daß sich spätere Regierungen an eine Verpflichtung in Kioto gebunden fühlen? Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was ein neuer Bundeskanzler Gerhard Schröder dazu sagen würde: „Na ja, das müssen wir noch mal ganz sachlich abwägen. Schließlich habe ich nichts versprochen. Was kann ich dafür, daß meine Vorgänger sowenig getan haben. Und natürlich dürfen Arbeitsplätze nicht gefährdet werden.“
Schon das in Rio vorgegebene Ziel einer Stabilisierung des Ausstoßes von Treibhausgasen bis zum Jahr 2000 ist schließlich von kaum einer Regierung eingehalten worden. Wenn in Kioto lediglich ein Ziel für 2010 festgelegt würde, wie es sich derzeit abzeichnet, welchen Grund hätte eine Regierung, jetzt überhaupt etwas zu tun, wo doch noch zwei Legislaturperioden bis zum Stichtag folgen werden. Jede Regierung wird natürlich daran erinnern, daß bislang ja gar nicht so viel passiert sei. Es macht keinen Sinn, Ziele zu beschließen, die erst erreicht werden müssen, wenn keiner der anwesenden Regierungschefs mehr im Amt ist. Das ist das entscheidende Problem dieser Verhandlungen und der Punkt, an dem sich der Erfolg oder Mißerfolg der bisherigen Arbeit der NGOs zeigen wird.
Ob es in Kioto zu gescheiten Maßnahmen kommt oder nicht, die NGOs werden sich auf ihren Ausgangspunkt zurückbesinnen müssen. Wie gelingt es, diese Erfolge wieder zurückzutragen in die Bevölkerung, eine Basis zu schaffen, die einen dauerhaften Erfolg garantiert? Die Aufgabe ist schwer genug: Selbst einzelne Regierungen hatten nie sowenig Einfluß auf die Wirtschaft wie heute. Auch in der Umweltbewegung setzt sich der Glaube fest, gegen den Strom des Warenhandels nicht anschwimmen zu können.
Um wieder die Grünen zu bemühen: Sie meiden im Umweltteil ihres Wahlprogrammentwurfs zur nächsten Bundestagswahl fast alles, was sich nicht mit Jobversprechen verknüpfen läßt. Am Ende landen auch sie nicht weit von Bundesumweltministerin Merkel entfernt. Sie sei sich selten einer Sache so sicher gewesen wie beim Klimaschutz, sagt Merkel, wenn sie unter Journalisten ist: „Es kann nicht falsch sein, wenn man Energie spart.“ Tatsächlich stürzen sich die Umweltverbände zur Zeit darauf, nur solche Lösungen zu propagieren, die den Welthandel nicht beschränken, sondern Deutschland durch energiesparende Innovationen neue Exportchancen eröffnen.
Doch in dem Maße, wie sich Ökoverbände nicht mehr trauen, Lösungen zu fordern, die auch Geld kosten, landen sie endgültig in der Defensive. Wer heute vom „Reformstau“ spricht, denkt an Rente, Steuern und den Wirtschaftsstandort Deutschland. Vom Erhalt der Lebensgrundlagen ist keine Rede. Als es etwa im März darum ging, endlich die klimaschädlichen Kohlesubventionen abzubauen, die größte – wenn auch unfreiwillig – umweltpolitische Absicht der Regierung Kohl, waren auch grüne Spitzenpolitiker schnell zur Stelle, um die Kohlekumpel in Bonn zu beruhigen und vor einem drastischen Abbau zu warnen. Die wirklich unverdächtige Weltbank hat ermittelt, daß weltweit rund 400 Milliarden Mark Subventionen in Kohle, Erdöl und Gas gestopft werden. Allein das Streichen dieser Hilfen könnte einige der Prozente an Kohlendioxidemissionen einsparen, um die jetzt in Kioto so mühsam gerungen wird.
Wo ist der Glaube geblieben, die Bevölkerung überzeugen zu können? Wo ist der Mut zu Kampagnen? Zum Streiten für eine bessere Zukunft? Gern sehen wir Mitteleuropäer uns als aufgeklärte Menschen, die aus der Geschichte gelernt haben. Vielleicht würden Umweltschutzverbände und -politiker trotz eines Klimaschutzprotokolls bald entdecken, daß sie an derselben Stelle stehen wie die emsländischen Herzöge vor 200 Jahren. Wahrlich ein Katastrophenszenario.s
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